Zwei

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"Was ist los?", frage ich Linus. Er streckt seine Arme aus, aber ich will ihn jetzt nicht umarmen. Es ist zwar nicht sehr erwachsen, jetzt beleidigt zu sein, aber ich will ihm einfach zeigen, dass er nicht so einfach verschwinden kann, ohne sich auch nur ein Mal kurz zu melden. Immer hin habe ich mir schreckliche Sorgen gemacht.

Linus guckt mich mit seinem Hundeblick an.
"Tut mir leid, Felix.", flüstert er, umarmt mich dann doch. Und irgendwie genieße ich es, seine Wärme zu spüren und seinen Geruch wieder zu riechen. Schließlich habe ich ihn vermisst. Trotzdem entferne ich mich schnell wieder von ihm.
"Ich musste schnell los. Ich kann dir das nicht erklären. Aber jetzt bin ich doch wieder da." Er nimmt meine Hände in seine und schaut mich mit seinen braunen Augen an.

"Ich habe mir Sorgen gemacht. Hast du nicht gesehen, wie oft ich versucht habe, dich zu erreichen?" Ich reiße meine Hände von ihm weg und schaue gekränkt auf den Boden.
"Und ganz bestimmt nicht, werde ich jetzt so tun, als wäre nichts gewesen. Ich will eine Erklärung von dir!" Entschlossen halte ich Blickkontakt mit ihm.

"Es tut mir doch Leid, aber ich möchte nicht darüber reden." Linus macht eine entschuldigende Geste. "Bitte verstehe das."
Aber ich will das nicht verstehen. Ich will nur eine Antwort.
Wütend stampfe ich mit meinem rechten Fuß auf, kreuze meine Arme vor der Brust und schüttle den Kopf. "Ich finde, du solltest mir langsam vertrauen."
Was denkt er sich eigentlich? Dass er machen kann, was er will, ohne das es Konsequenzen hat?
Nein, so einfach kommt er mir nicht davon.
In der Hoffnung, etwas damit in ihm zu erreichen, mache ich einen Schritt auf ihn zu.
"Hör mir zu, Linus. Du bist mir wichtig. Sehr sogar. Und wenn dir irgendwas passiert, dass ich wissen sollte, musst du mir das sagen. Ich will nicht hier dumm rum sitzen und warten, bis du dich meldest und so tust, als wäre alles gut. Das ist es nämlich nicht."

Linus' Augen fangen an zu glänzen.
"Weißt du, Felix, ich möchte es dir liebend gerne erzählen, aber ich kann es einfach nicht. Noch nicht." Er steckt seine Hände in seine Jackentasche und blickt auf den Boden, wo er mit seinem Fuß einen Stein hin und her rollt.
"Ich werde dir Antworten auf alle deine Fragen geben. Aber nicht hier und nicht jetzt. Bitte nimm es so an."
Seine zitternde Stimme versetzt mir einen Stich ins Herz. Vorsichtig lege ich meine Arme um ihn. Ich mag es nicht, ihn so zu sehen. So traurig und irgendwie hilflos. Ich will ihm helfen, aber wie soll ich das, wenn er es nicht zu lässt.
"Alles ist gut. Du erzählst es mir, wenn du so weit bist, versprochen?" Ich nehme seinen Kopf in meine Hände und versuche ihn anzulächeln. Ich will ihn nicht traurig machen. Mein Bauch sagt mir, dass ich ihm Zeit geben soll. Mein Gehirn hingegen sagt, dass ich jetzt wissen muss, was passiert ist. Dass er mir jetzt sofort erklären sollte, was los ist. Weil es so richtig wäre.
Mein Mitleid ist aber zu groß, also bleibe ich einfach ruhig neben Linus stehen, reiche ihm ein Taschentuch und reibe seinen Rücken.

"Danke, Felix.", schnieft Linus und lächelt schief, bevor er seine Nase putzt.
"Komm, wir gehen zu mir nach Hause. Meine Eltern sind noch bis heute Abend weg.", schlage ich vor und er nickt.

Auf dem Weg zerbreche ich mir das Gehirn. War es falsch, ihn nicht zur Rede zu stellen? Hätte ich weniger Mitleid haben sollen? Ist es eine gute Idee, dass wir jetzt noch was zusammen machen?
Na ja, irgendwie schon, denn so wird Linus abgelenkt. Und ich kann vielleicht noch ein bisschen von seinem Vertrauen gewinnen. Dennoch bin ich mir unsicher über meine Entscheidung.

Wir machen es uns zusammen auf meinem Bett gemütlich, trinken - von Kissen und Decken umgeben - einen Kakao und reden über belanglose Dinge.
Endlich lacht Linus auch wieder und wir bekommen den Kopf frei.
Vorsichtig rücke ich näher an ihn ran. Wenn es schon so gemütlich ist, können wir doch auch ein bisschen kuscheln oder nicht?

"Sollen wir kuscheln?", fragt Linus, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich nicke und lege mich hin. Er tut es mir gleich, woraufhin ich meinen Arm um ihn schlinge und meinen Kopf auf seine Brust schmiege.
Sanft streichelt er über meinen Kopf.

Plötzlich schießt mir ein Gedanke in den Kopf: das Armband!
"Warte mal kurz, ich hab noch was für dich!", sage ich, während ich mich aufrichte und in meiner Hosentasche nach dem Band suche.
"Hier, ich hab es in meinem Zimmer gefunden, du musst es verloren haben." Sachte lege ich sein Armband in seine Hand. Seine Augen werden groß.
"Ich dachte, ich würde es nie wieder finden! Ich hab mir sogar schon ein neues gekauft, guck." Er zieht den Ärmel seines Pullis hoch und an seinem Arm funkeln die Planeten wie gewohnt um die Wette.
Lachend lege ich mich wieder neben Linus, gebe ihm einen Kuss auf die Wange und kuschle mich an ihn.
"Du kannst es gerne haben." Feierlich überreicht er mir das Armband und ich nehme es zurück.
"Im Ernst?", frage ich erstaunt.
"Na klar, was soll ich mit zwei Stück?" Lachend drückt er mich kurz, dann streichelt er weiter über meine Haare.
Ich schließe die Augen und genieße es.

GelbWo Geschichten leben. Entdecke jetzt