I See You.

Mich überwältigt das Gefühl.

„Lass das!", rufe ich und sehe ihn fast schon verzweifelt an. Nein, einfach nur verzweifelt und da macht wohl etwas Klick bei ihm, denn von einer Sekunde auf die Andere, verändert sich sein Blick. Ich bin irritiert, verstehe aber nichts, denn wie von einer anderen Macht gesteuert liegen seine Lippen fordernd auf meinen. Ich verstehe nichts, bin überrumpelt und erwidere schlagartig den Kuss, der sanft und gleichzeitig so drängend ist... Mich überwältigt das Gefühl, das die Wut in mir direkt auslöscht und nur Verwirrung dalässt. Die Wand hinter mir gibt mir halt, den ich brauche, um dieser Leidenschaft standzuhalten. Meine Finger graben sich in Coles schwarzes Shirt, während seine Hände fast schon zärtlich mein Gesicht streicheln. Nur Das was die Hände verursachen, das Kribbeln in meinem Bauch, wird verstärkt durch die unglaubliche Intensität des Kusses.

Nur mischt sich da noch etwas in mein Gedächtnis. Will, weswegen sich meine Hände schlagartig von seinem Shirt losreißen und wegschubsen. Das was ich in seinen Augen sehe, will ich nicht sehen und es verwirrt mich. Es verwirrt mich so sehr, dass ich nichts mehr verstehe.

Ohne noch auf irgendwas zu achten, stürme ich hoch und schnappe mir meine Sachen. Keine Sekunde länger bleibe ich hier. Was gerade passiert ist, will ich nicht analysieren oder zerdenken. Ich will nur nach Hause, duschen und schlafen. So weit ich das kann. Der Laden ist voll, aber ich zwänge mich trotzdem durch die Menge. „Lina? Hey, wohin gehst du? Lina!", ruft mich Josie, aber ich höre nicht. Ich ignoriere sie, denn sonst würde sie sicher aus meinem Gesicht lesen können was passiert ist.

Die Tür ist schneller zu, als ich es jemals für möglich gehalten hätte und da bleibe ich stehen. In der Nacht. Eine warme Nacht und die Hitze, die in meine Wangen schießt, ist kaum auszuhalten, denn sie kriegt keine Chance auszukühlen.

Was war das? Was zum Teufel war das gerade? Nein! Ich will heute nicht darüber nachdenken. Morgen kann ich mich schämen und meinen Kopf zerbrechen. Heute ist Schluss. Nichts mehr will ich heute. Nichts!

-

Meine Augen sind offen und das sind die seit einer ganzen Weile. Schlafen war, wie zu erwarten war, unmöglich. Amy war wach, als ich nach Hause kam und hat sich natürlich gewundert, wieso ich so früh da bin. Ich weiß nicht genau was ich gesagt habe. Sowas wie, es war nicht viel los oder so. Dann habe ich geduscht und versucht zu schlafen. In Rekordzeit. Nur hat das nichts gebracht, denn jetzt muss ich mich meinen Gedanken stellen. Meinen Erinnerungen und dem Blick... Coles Blick, als ich ihn weg geschubst habe... weil er mich... geküsst hat. Oh mein Gott, auch in Gedanken klingt es surreal.

Was soll ich machen? Und Will? Oh nein, ich bin doch eine Schlampe oder? Wie lange haben wir uns geküsst? Oh nein! Ich liebe Will und habe gestern Cole geküsst. Wieso? Oh nein, ich bin definitiv eine Schlampe. Ich muss es ihm sofort sagen. Ich kann nicht so durch die Gegend laufen oder ihm überhaupt ins Gesicht sehen. Toll, einen Freund und schon werde ich zur Nutte? Reife Leistung, Lina! Und dann noch Cole! Oh mein Gott. Ich flippe aus. Die Aufregung von gestern ist nicht abgeklungen, sie steigt immer weiter an.

Nur... wenn ich mehr und mehr darüber nachdenke... er stand so nah vor mir, man Cole sieht verdammt gut aus, aber es war mir immer egal, weil... Ja, er hasst mich... eigentlich. Cole ist alles andere als unattraktiv, eher gut gebaut, groß, leicht gebräunt... ein Frauenschwarm. So wie Frauen es haben wollen, einen Badboy, aber ich nicht! Ich habe Will und ich will Will auch. Ich liebe ihn nunmal! Einen perfekteren Freund kann man nicht haben. An Will ist alles perfekt... er ist charmant, liebevoll, respektvoll vorallem und sieht mich... Er sieht mich und nichts anderes. Er hat es geschafft mich aus meinem Loch zu holen. Cole ist egoistisch und ein Menschen verachtender, scheiß Kerl, der all seine Probleme auf eine Person drauf packt, um diese fertig zu machen und verwirrt stehen zu lassen. Was soll das? Was sollte das gestern? Er hat mich so unglaublich verletzt und beleidigt, um mich dann einfach zu küssen.