Chapter 5

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What feeds me destroys me

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What feeds me destroys me.
- Christopher Marlowe, englischer Dichter und Dramatiker





JJ hatte recht gehabt; ich musste tatsächlich auf der Straße schlafen. Das Schwierigste war nur, einen geeigneten Schlafplatz zu finden. Abends wurde es ziemlich kalt; hätte ich mal eine Decke mitgenommen.
Ich bog die Straßen blindlings ab. Es wurde bereits dunkel, und ich lief schneller; ich hatte keine Lust in der Nacht weiter durch diese Gassen zu laufen. Ich konnte mir nur all zu gut vorstellen, was für Gestalten in der Dunkelheit ihr Unwesen trieben – in unserer Zeit gab es ja bereits die skurrilsten.
Irgendwann erschien vor mir der Eingang zu einer Kanalisation. Ich blieb stehen.
Entweder Ratten oder Vergewaltiger, schoss es mir durch den Kopf.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, indem ich tief durchatmete, und trat in die dunkle, geheimnisvolle Welt der Kanalisation. Das Tropfen des Wassers, welches von den Wänden hallte und leise Echos hinterließ, jagte mir einen Schauer den Rücken hinunter. Ich trat in eine Pfütze, so dass meine Schuhe durchweichten.
Nicht gerade das Paradies auf Erden.
Ich lief weiter, bis ich in einigen Metern Entfernung eine Abbiegung sah. Allmählich wurde es immer dunkler; bald würde ich gar nichts mehr erkennen können. Doch um hier schlafen zu können, war es zu nass und kalt. Wahrscheinlich musste ich doch umdrehen und draußen im Freien die Nacht verbringen.
Auf einmal erschien das Licht von Fackeln an der Wand. Ich vernahm Stimmen und Schritte. Dunkle Schatten tanzten ebenfalls auf dem Gestein. Hastig sah ich mich nach einem Versteck um, doch ehe ich irgendetwas hätte finden können, bog bereits eine Gruppe Jungen um die Ecke, und als sie mich erkannte, blieb sie stehen.
»Nanu, wen haben wir denn da?«, fragte ein Junge, dessen Gesicht durch seine Kapuze verborgen blieb. Das Licht seiner Fackel warf tiefe Schatten, welches ihn furchteinflößender wirken ließ. »Ein Eindringling.«
Die Art, wie er sprach, machte mir Angst, und reflexartig trat ich einen Schritt zurück. »Mein Name ist Elizabeth«, erklärte ich und versuchte dabei meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen.
»Ach, wirklich?« Der Spott in der Stimme des Jungen war nicht zu überhören.
»Ja. Ich suche nur nach einen warmen Platz zu schlafen, das ist alles.«
»Habt ihr das gehört?«, fragte er seine Begleiter und lachte. »Nun denn, wenn das so ist«, er vollführte eine Handbewegung und trat zur Seite, »folge uns, holde Maid. Ich bin mir sicher, dass wir noch einen Platz entbehren können.«
Zögernd trat ich näher und erst als ich vor ihm stand, konnte ich blonde Locken erkennen, die etwas unter der Kapuze hervorragten. Doch das, was sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war die große Narbe, die vom Nasenbeinknochen herab über seine ganze linke Wange prangte.
»Nur nicht zu schüchtern«, hauchte er mit einem Lächeln auf seinen Lippen.
Ich erwiderte nichts, sondern folgte seinen Begleitern. Mir war sichtlich unwohl, als der Unbekannte hinter mir aufschloss und wir tiefer in die Kanalisation gingen. Doch ich schwieg und behielt meine Bedenken für mich. Wo auch immer ich gerade hineingeriet, es gefiel mich nicht.
Es wartet halt nicht immer ein Caesar auf dich, wenn du in der Zeit reist, schoss es mir durch den Kopf.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir liefen, doch gefühlt vergingen Stunden. Als wir dann endlich unser Ziel erreichten, konnte ich nicht anders, als erst einmal stehenzubleiben und mit offenem Mund das Geschehen vor mir zu beobachten. Wir befanden uns mitten in einem Gang, der genauso aussah, wie die anderen in der Kanalisation. Doch anstelle des angesammelten Wassers und Schmutzes loderten hier vereinzelte Lagerfeuer. Es lagen Decken und Taschen herum. Essen wurde über den Feuern zubereitet. Ab und an waren einige Schlafplätze von einer Art Zelt verdeckt; ein Tuch war über die Decken gespannt und mit Stäben und Seilen befestigt worden.
Die Jungengruppe, die mich mitgenommen hatte, löste sich auf und verteilte sich kreuz und quer. Der mit der Narbe ging zu einem anderen Jungen, mit welchem er kurz sprach. Als die beiden aufblickten und zu mir herübersahen, wandte ich schnell meinen Kopf weg.
Du schläfst hier eine Nacht und dann verschwindest du, ermahnte mich meine innere Stimme.
»Ein Neuzugang also«, erklang auf einmal eine Stimme, die mich zusammenzucken ließ.
Ich blickte auf. Der Narbenjunge und sein Freund standen vor mir.
»Ich bin Elizabeth«, erklärte ich knapp.
»Mein Name ist Kilian, das ist Lucas.« Er deutete auf den Narbenjungen.
»Du bist so was wie der Anführer?«, fragte ich.
»Kann man so sagen, ja.« Die dunklen Augen Kilians machten mir Angst. Sie schienen mich beinahe zu durchbohren. »Lucas erzählte mir, dass du nach einem Platz zum Schlafen suchst. Wie es der Zufall will, haben wir noch einen frei.« Selbst sein Lächeln ließ das Blut in meinen Adern gefrieren; der Junge war mir nicht ganz geheuer.
»Danke«, sagte ich jedoch nur und zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln.
»Setz dich zu uns ans Feuer«, sagte Kilian, »heute bist du unser Gast.«
Langsam folgte ich den beiden Jungen, zu einem Lagerfeuer, wo bereits andere saßen. Bevor wir gekommen waren, hatten sie miteinander gesprochen, doch als wir uns zu ihnen setzten, schwiegen sie und wandten sich ab. Ich wusste nicht, ob es an mir lag oder an Kilian. Ich bemerkte, wie sie nervös ihre Finger kneteten, und Kilian, der sich vom Spieß etwas Fleisch genommen hatte, unterbrach sein Kauen.
»Ist was?« Seine Stimme schnitt wie ein Messer in meine Haut.
»N-Nein«, sagte einer der Jungen hastig.
Ein eindringliches Anstarren von Kilian folgte und auf einmal riss der unbekannte Junge den Kopf weg und erhob sich. »Wir gehen dann mal ...« Er winkte mir zögerlich, dann zog er den anderen mit sich davon.
»Was ist mit ihm?«, wollte ich von Kilian und Lucas wissen.
Kilian zog mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ist auch egal. Willst du was?« Er hielt mir ein Stück Fleisch entgegen.
Schüchtern lächelte ich und nahm es dankend an. Langsam schob ich es zwischen meine Lippen. Es war das Beste, nicht nachzufragen, welches Tier das einmal gewesen war.
Lucas und Kilian beobachteten mich beim Essen und lachten leise auf, als das Stück aufgegessen hatte.
»Schmeckt gut«, murmelte ich, auch wenn es nur teils wahr gewesen war; es schmeckte irgendwie eigenartig.
Wie gesagt – es war das Beste, nicht nachzufragen.
»Hier sind keine Mädchen«, bemerkte ich, während ich mich umsah.
Kilian lachte. »Nein. Mädchen würden hier nicht überleben.«
»Wieso? Weil sie schwach sind?« Ich bemühte mich nicht einmal, meinen spöttischen Unterton zu unterdrücken.
»Sie lieben warme Betten, warmes Essen, warmes Wasser«, sagte Lucas, »hier finden sie nur Dreck, Kälte und den Tod. Nichts was einem Mädchen gefallen würde.«
Ich nickte verstehend.
»Was machst du hier, Elizabeth? So mitten auf der Straße?« Kilians dunkle Augen schienen mich zu durchbohren.
»Ich … ähm ...« Die Geschichte mit dem Umzug würde nun nicht mehr ziehen – das war mir klar. Deswegen musste ich eine neue erfinden. »Meine Eltern … sie sind verstorben … Wir lebten in Canterbury, doch da gab es dort nach ihrem Tod nichts mehr für mich … Ich kam hierher und hier bin ich.«
Lucas hielt kauend den Blick auf sein Essen gesenkt. Kilian musterte mich weiterhin eindringlich. Ich fühlte mich mit jeder Sekunde unwohler.
»Mein Beileid«, sagte Kilian auf einmal.
Ich nickte. »Ich … Ich würde mich nun gerne schlafen legen, wenn das in Ordnung wäre.«
»Natürlich«, sagte Kilian und erhob sich. »Lucas zeigt dir deinen Schlafplatz.«
Lucas erhob sich etwas überrumpelt, warf den übrigen Knochen vom Fleisch weg und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Folg mir!«
Ich tat, wie mir geheißen, und folgte Lucas durch das kleine Lager.
»Hier«, sagte er und blieb vor einem etwas abseits gelegenem Schlafplatz stehen. »Decke, ein Sack mit Stroh – ich hoffe, es ist der Lady genehm.«
»Kein Grund, ausfallend zu werden«, meinte ich, »aber danke.«
Lucas nickte nur, dann ging er wieder davon. Ich betrachtete meinen Schlafplatz.
Besser als nichts.
Ich ließ mich darauf nieder und klopfte den Sack mit dem Stroh auf. Wie von selbst hob ich noch einmal den Kopf und mein Blick traf genau auf Kilian, der mich aus der Ferne beobachtete. Er nickte mir zu und ging davon, und unruhig legte ich mich nieder.

Am nächsten Morgen wurde ich durch scheppernde Töpfe und das wilde Durcheinander der Stimmen geweckt. Als ich langsam die Augenlider öffnete, sah ich, wie einige der Jungen hin und her liefen.
»Guten Morgen, Schlafmütze!«, rief auf einmal jemand und ich schrie auf, als dieser Jemand vor mein Gesicht sprang. Er lachte und in diesem Moment bemerkte ich, dass es ein Mädchen war.
»Wie ich sehe, hast du bereits unseren Neuzugang kennengelernt, Daisy«, hörte ich Kilian sagen, der kurz darauf mit Händen in den Hosentaschen auf zukam.
Das Mädchen mit den blonden langen lockigen Haaren lachte. »Ein hübscher Neuzugang.« Ihre grünen Augen funkelten.
»Ich dachte, hier gibt es keine Mädchen«, meinte ich.
»Keine schwachen Mädchen«, korrigierte Kilian. »Daisy ist nicht schwach.«
»Ich hab das getan, was Mädchen tun, um zu überleben.« Das Lächeln in Daisys Gesicht bedeutete so vieles. Und als ich in ihre Augen sah, schien es, als könnte ich in ihr Herz sehen. Das machte mir Angst. Diese ganze Zeit machte mir Angst – und ich hatte noch nicht einmal alles gesehen. Daisy war ungefähr so alt wie ich und die Vorstellung, was sie alles durchgemacht haben musste, drehte meinen Magen um und ließ mich beinahe das seltsame Stück Fleisch vom Vorabend ausbrechen.
»Wie heißt unser Neuzugang? Wird sie bleiben?«, fragte Daisy auf einmal.
»Nein, nein«, sagte ich hastig. »Ich wollte nur für diese Nacht bleiben. Ich … ich muss gehen ...«
»Jetzt schon?«, fragte Kilian. »Wir haben uns doch noch nicht einmal richtig kennengelernt.«
»Ja … Ich … ich wollte mir zuerst die Stadt ansehen«, meinte ich zögernd.
»Natürlich, natürlich. Was hältst du davon? Daisy zeigt dir die Stadt und heute Abend kommst du wieder hierher. Du bist hier herzlich willkommen.«
Ich nickte. »Danke sehr. Das ist wirklich sehr freundlich.«
»Immer wieder gern«, sagte Kilian und er sprach die Worte so langsam, dass mir ein Schauer den Rücken herunterlief. Das Lächeln, welches er mir zuwarf, bevor er ging, war eiskalt.
»Dann führe ich dich gleich mal ein wenig herum, ja?«, sagte Daisy und erhob sich verzückt lachend.
Wenige Augenblicke später fand ich mich auf den Straßen Londons wieder, mit Daisy an meiner Seite. Sie zog mich am Arm mit, lachte und hüpfte wie ein verzücktes Kind, welches mit seinen Eltern Disneyland besuchte. Es erstaunte mich, wie viel Lebenskraft in einem Menschen stecken konnte, der in solchen Verhältnissen aufwuchs. Doch das zeigte mir, dass die Gesellschaft, in der ich normalerweise lebte, ganz andere Normen entwickelt hatte – und es wäre gelogen, wenn ich sagen würden, dass die Menschen in meiner Zeit nicht stolz und zu fein für solche Dinge wären.
Wir erreichten einen Markt und ehe ich mich versah, hielt Daisy einen Apfel in der Hand und reichte ihn mir.
»Woher hast du den?«, wollte ich wissen.
»Solche Fragen stellen wir nicht«, gab das Mädchen zurück.
»Du hast ihn geklaut«, stellte ich trocken fest.
Daisy warf mir ein Lächeln zu. »Du hast doch Hunger, oder nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie weiter, und ich musterte den roten Apfel in meiner Hand. Ja, ich hatte Hunger, aber moralisch gesehen …
Andere Zeiten, andere Sitten, schoss es mir durch den Kopf und biss von dem Apfel ab, ohne weiter darüber nachzudenken.
»Du nimmst dir, was du willst«, erklärte Daisy, als ich sie eingeholt hatte, »diese Welt hat nichts für dich übrig. Deswegen musst du sie dir eigen machen.«
Ich nickte verstehend.
Wir verließen den Markt und liefen eine schmale Gasse hinunter. Ab und an kamen uns Leute entgegen, die uns jedoch keines Blickes würdigten. Am Ende der Gasse bogen wir in eine breitere Straße ein, auf welcher unzählige Kutschen fuhren. Menschen liefen auf dem Gehweg, trugen Kisten mit Lebensmitteln umher oder schütteten Töpfe mit Exkrementen auf die Straße. Es roch nicht wirklich angenehm hier, weswegen ich Mühe hatte, bei dem beißenden Gestank nicht das Gesicht zu verziehen.
Ich traute mich nicht zu fragen, wohin wir gingen, weswegen ich Daisy einfach schweigend folgte. Irgendwann erkannte ich in der Ferne ein Ladenschild, welches mich aufblicken ließ. Ein Amboss aus Metall wehte im Wind, und als wir näherkamen, hörte ich, dass es sichtlich laut quietschte. Ein Junge stand halb auf der Straße und schlug mit einem Hammer immer wieder auf den glühenden Stahl. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, welchen er hin und wieder mit seinem schmutzigen Handrücken abwischte.
»Joseph«, stellte ich fest und Daisy blieb stehen und sah mich überrascht an.
»Du kennst ihn?«
»Ja … ähm, ich hab ihn gestern kennengelernt.« Mein Blick wanderte wieder zu Joseph, der so tief in seine Arbeit versunken war, dass er seine Umgebung kaum wahrnahm.
»Wir sollten lieber wieder gehen«, meinte Daisy auf einmal.
Überrascht sah ich sie an. »Wieso?«
Das Mädchen antwortete nicht, sondern drehte sich bereits um und ging in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
»Wohin wollen wir eigentlich?«, fragte ich sie schließlich, als ich sie mit eiligen Schritten eingeholt hatte.
»Das wirst du gleich sehen.«
Das »gleich« zog sich noch eine gefühlte Ewigkeit dahin. Der Ort, zu dem Daisy mich gebracht hatte, war ein Gasthaus, in welchem die Menschen ein- und ausgingen; gefühlt mehr ein als aus.
»Und nun?«, wollte ich wissen.
»Nun werden wir da reingehen«, erklärte Daisy knapp, jedoch mit einem Lächeln, und bevor ich etwas sagen konnte, lief sie bereits los.
Wir betraten das stickige Gasthaus, in welchem es ziemlich laut war. Die Stimmen vermischten sich zu einem undichten Wirrwarr, welches es unmöglich machte, irgendeinen sinnvollen Satz herauszuhören. Es war nicht besonders hell hier, doch nach der Nacht in der Kanalisation war ich die Dunkelheit gewöhnt.
Daisy bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die Menschen, die lachend und grölend herumstanden oder saßen. Die meisten Stühle waren von ihren ursprünglichen Plätzen weggenommen und woanders hingestellt worden.
»Es ist früher Morgen«, sagte ich. »Warum sind hier so viele Menschen?«
»Die meisten von denen sind Söldner, die auf einen neuen Auftrag warten«, erklärte Daisy.
Ich nickte verstehend.
»Was hältst du von dem da?«, fragte das Mädchen auf einmal und deutete auf einen Mann, der zu uns herübersah, in der einen Hand einen Krug haltend, mit den freien Fingern auf dem Tisch trommelnd.
»Was soll ich von dem halten?«, gab ich zurück.
»Na, los, sprich ihn an!«
Bevor ich etwas erwidern konnte, stieß Daisy mit in den Rücken und schubste mich in die Richtung des Mannes.
»Hallo, Schönheit«, sagte er, kaum hatte ich ihn erreicht.
»Hallo ...«, sagte ich weitaus zögernder.
»Ich hab dich schon von Weitem gesehen«, meinte der Mann.
Ich nickte mit hochgezogenen Augenbrauen. Wenn das die Anmache des 13. Jahrhunderts ist, ist sie wirklich schlecht.
»Wie ist dein Name?«
Ich sah an dem Mann vorbei und bemerkte, wie Daisy einige Meter hinter diesem herumschlich, ab und an mit anderen Söldnern flirtete und dann weiter auf mich zukam.
»Elizabeth«, sagte ich und sah wieder zu meinem Gegenüber, »mein Name ist Elizabeth.«
»Schöner Name, sehr schöner Name.« Der Mann grinste verheißungsvoll und trank einen Schluck aus seinem Krug, den Blick weiterhin auf mich gerichtet.
Auf einmal stand Daisy hinter dem Mann und legte ihm ihre Arme um die Schultern. »Meine Freundin ist etwas schüchtern, aber ich«, sie ließ ihre Finger abwärts den Arm des Mannes hinunterwandern, »bin von ganz anderer Natur.«
Er lachte. »Das gefällt mir.«
Ich sah, wie Daisy ihre Hand weiter nach unten wandern ließ, und zwang mich sofort, den Kopf zu heben.
»Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder«, sagte das Mädchen auf einmal, lachte glockenhell und drehte sich ab.
»Das hoffe ich doch«, hörte ich den Mann noch sagen, während ich Daisy nach draußen folgte.
»Du hast ihn beklaut!«, rief ich, kaum fiel die Tür hinter uns ins Schloss.
»Entspann dich!«, sagte sie seelenruhig und begann, das Geld in dem Beutel zu zählen.
»Ich soll mich entspannen?«, entgegnete ich empört. »Das ist strafbar!«
Daisy hob den Kopf und sah mich mit einem spöttischen Blick an. »Strafbar? Hast du nicht zugehört, was ich vorhin gesagt hab? Die Welt hat nichts für dich übrig, also musst du sie dir eigen machen.« Sie deutete auf mich. »Merk dir das!« Und kaum hatte sie dies gesagt, warf sie das Geld zurück in den Beutel, versteckte ihn in ihrem Dekolleté und lief los; und nach kurzem Zögern folgte ich ihr.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Lucas, als wir das Quartier in der Kanalisation betraten.
»Der Neuzugang hat sich als würdig erwiesen«, sagte Daisy, und ich war mir sicher, dass sie die Geschichte beabsichtigt mehr ausschmückte, als sie in Wirklichkeit gewesen war.
»Wie viel habt ihr?«
»Das geht nur den Boss was an, Scar«, entgegnete Daisy grinsend an Lucas gewandt und lief ohne Weiteres auf Kilian zu, der an einem Lagerfeuer saß.
»Ich hoffe, du hast dieses Mal mehr als beim letzten Mal«, meinte dieser trocken, ohne aufzublicken. Er warf die Knochen, die er aus dem toten Tier zog, zu Boden und aß das übrige Fleisch.
»Ich habe genügend«, meinte Daisy und warf den Beutel Kilian vor die Füße.
Der Junge wandte seinen Blick diesem zu und fragte kauend: »Wie viel?«
»20 Schilling.«
Kilian nickte, doch ob er zufrieden war, vermochte ich nicht wirklich an seinen Gesichtszügen abzulesen.
»Der Neuzugang war eine große Hilfe«, erklärte Daisy und ließ sich dem Jungen gegenüber nieder. Ich tat es ihr langsam nach.
»Dann hat sie die Aufgabe bestanden?«, fragte er und sah auf. Sein Blick lag prüfend auf mir. Gerade als ich antworteten konnte, kam Daisy mir zuvor.
»Ja. Elizabeth und ich sollten in nächster Zeit öfter zusammenarbeiten.«
»Das werden wir sehen«, sagte Kilian und wandte sich wieder seinem Essen zu. »Hast du sie bereits über die anderen Regeln aufgeklärt?«
Er tat so, als wäre ich nicht da, was mich allmählich ziemlich verwunderte. Generell seine ganze Art. Das wenige Bisschen, was man als Freundlichkeit bezeichnen konnte, hatte er innerhalb weniger Stunden verloren und nun saß ein kaltherziger Anführer vor uns.
»Um weiterhin hier bei uns leben zu können, musst du etwas leisten«, erklärte Daisy an mich gewandt. »Du musst dem Anführer etwas Wertvolleres geben.«
»Inwiefern wertvoll?«, verlangte ich zu wissen.
»Deine Uhr«, sagte Kilian, ohne aufzublicken, und deutete auf mich. »Ich weiß, dass du eine sehr wertvolle Taschenuhr bei dir trägst.«
Woher er das auch immer weiß …
»Die kann ich nicht verschenken«, sagte ich sofort. »Sie ist … ein Erbstück ...«
Kilian zuckte mit den Achseln. »Dann musst du gehen – so leid es mir tut.«
»Ich finde etwas anderes«, entgegnete ich. »Die Uhr bringt sowieso nicht sonderlich viel Geld ein.«
Kilian blickte auf und musterte mich. »In Ordnung«, sagte er, dennoch hatte ich das Gefühl, dass er es nicht ernst meinte.
Ich nickte trotzdem.

3079 Wörter

Wie findet ihr Killian und die anderen? Glaubt ihr, Liz wird sich ihnen anschließen?

Danke für die Votes und Kommis ❤

Die Taschenuhr - Lang lebe die Königin! [Band 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt