Kapitel 9

1.4K 39 2
                                    

Leilas Sicht

"Hast du telefoniert?", hörte ich Kilian fragen. "Äh ja, mit einer Freundin aus dem Unikurs." "Den Stoff holst du schon auf. Du hast doch nur zwei Tage gefehlt und bei deinem Ehrgeiz, schaffst du das locker." Ich starrte Kilian verblüfft an, glaubte er ernsthaft, dass ich mir Sorgen um die Uni machte. An die Universität hatte ich bis jetzt keinen einzigen Gedanken verschwendet, ich hatte das Gefühl meine Gedanken kreisten nur noch um Majas Tod und Mia. Warum verstand Kilian nicht, dass es im Leben außer Erfolg noch andere Sachen gab. "Ich habe übrigens den Vertrag bekommen", riss Kilian mich aus meinen Gedanken. "Wow, das ist ja großartig", versuchte ich mich zu freuen, obwohl mich sein dämlicher Vertrag überhaupt nicht interessierte. Kilian schien meine vorgetäuschte Freude, jedoch nicht zu bemerken. "Ich habe gedacht, wir feiern das nächste Woche. Lass uns doch nach St. Moritz zum Skifahren fahren. Mein Geschäftspartner David bringt seine Frau auch mit. Ihr würdet euch bestimmt wieder blendend verstehen." Ich versuchte meinen Schock hinter einem Lächeln, welches eher einer Grimasse glich, zu verstecken. Ich konnte mir schon vorstellen, wie das ablief. Kilian würde sich den ganzen Tag mit irgendwelchen wichtigen Geschäftspartnern Wettrennen auf der Piste liefern und ich würde abseits neben der Piste mit den restlichen Ehefrauen stehen und so tun, als würde ich meinen Mann anfeuern. Und die Abende bestanden dann aus vornehmen Restaurantbesuchen, wo es hauptsächlich um geschäftliche Sachen ging und die Frauen tratschten über den neusten Vorstadtkram. Meistens konnte ich meine Abneigung zu diesen Dingen sehr gut verbergen, doch seit der Tatsache, dass Maja tot war, hatte ich im Moment nicht die Kraft und die Geduld für solche ermüdenden Geschäftsausflüge. Kilian schien zu merken, dass ich mich nicht freute. "Sonst bist du doch immer begeistert, wenn wir aus Hamburg verreisen. Wenn du willst, können wir beide danach noch einen Zwischenstopp in München machen. St. Moritz ist traumhaft, besonders im Winter, wenn es geschneit hat." "Wirklich hättest du mich vorgestern oder letzte Woche gefragt, wäre ich mitgefahren, aber jetzt... Ich habe dafür im Moment einfach keine Kraft, ich muss das erstmal verarbeiten. Das war ein Anschlag, weißt du wie viele Menschen umgekommen sind oder verletzt wurden. Ich kann glücklich sein, dass ich überlebt habe. Maja hatte dieses Glück nicht und du weißt, wie eng Maja und ich befreundet waren. Sowas steckt man nicht einfach kurz weg." Ich sah wie Kilians Gesichtsausdruck ins Verzweifelte wechselte. "Es tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht. Ich dachte nur als David vorhin mit dem Vorschlag kam, dass es dich ablenken würde. Aber, wenn dir das im Moment zu viel ist, bleiben wir in Hamburg. Ich kann dich auch hier ablenken, wenn du willst. Ich kann mir die Woche Urlaub nehmen und wir unternehmen etwas." Er blickte mich mit hoffnungsvollen Augen an. "Das wäre schön", brachte ich mit tränenerstickter Stimme raus. Er beugte sich zu mir runter und gab mir einen Kuss. "Wie wäre es, wenn wir morgen zusammen frühstücken gehen? Ich fange morgen erst um 11:00 Uhr in der Kanzlei an." "Gerne, ich wollte sowieso nochmal mit dir über etwas reden. Wo sollen wir, denn frühstücken gehen?" "Wir können ins Kafayas gehen, dort gibt es das beste Frühstück Hamburgs." "Mir würde auch das fünft oder sechst beste Frühstück Hamburgs schmecken." "Ja, aber mir nicht, Süße." Ich seufzte. "Okay, dann ins Kafayas." "Gehst du morgen zur Uni?" "Ja, danach. So weit ist es von dort nicht." Ich blickte auf die Uhr, wir hatten es schon ziemlich spät. "Ich gehe ins Bett, Kilian. Ich muss sowieso noch ein paar Unterlagen zusammen suchen." "Ich komme gleich nach." Im Bad versuchte ich den Blick in den Spiegel zu vermeiden, da ich wusste, was mich erwartete. Große rot unterlaufene Augen, welche vom Weinen schon brannten. Ein blasses Gesicht und Haare, welche einfach in einem unordentlichen Zopf zusammen gebunden waren, so dass sich schon mehrere Strähnen gelöst hatten. Ich beeilte mich im Bad, da ich heute keine Lust hatte, Kilian im Bad in die Quere zu kommen. Im Schlafzimmer packte ich noch schnell meinen Handtasche und suchte mir meine Kleidung für morgen raus. Als ich im Bett die Nachttischlampe einschaltete, fiel mein Blick auf meinen aufgestellten Fotorahmen, wo mich ein lachender Kilian mit mir im Arm anstrahlte. Es war letztes Jahr auf dem New Yorker Weihnachtsmarkt entstanden. Ich betrachtete das Bild und strich vorsichtig über mein Gesicht. Meine Wangen waren von der Kälte leicht gerötet und mein Blick zu Kilian strahlte pure Liebe aus. "Ich liebe dieses Bild von uns", erschreckte mich Kilian, welcher im Türrahmen lehnte. "Eines meiner Lieblingsbilder. Es steht sogar auf meinem Schreibtisch in der Kanzlei." "Ich weiß", erwiderte ich und stellte es vorsichtig zurück. Kilian ließ sich neben mir auf das Bett nieder und schaltete das Licht aus. Er drehte sich zu mir und ich spürte seinen Arm un meine Hüfte. "Ich liebe dich, Schatz." "Ich dich auch, Kilian", flüsterte ich und legte meine Hand auf seine Brust. Zum ersten Mal in meinen Leben hatte ich das Gefühl, dass mein ich liebe dich nicht ernst gemeint war. Liebte ich ihn wirklich? Liebte ich ihn überhaupt noch oder hatte ich ihn überhaupt jemals geliebt? Oder hatte ich mir die ganzen Jahre etwas vorgemacht? Und warum hatte ich das Gefühl, als hätte ich einen Flashback, warum erinnerte mich diese Situation so sehr an gestern Nacht mit Wincent? Ich wusste es nicht, dass einzige, was ich wusste, war das ich mich gestern im Bett neben Wincent viel wohler und lebendiger gefühlt hatte, als jetzt mit Kilian. Was immer mir das sagen sollte!

Ein Teil von dir, ist immer noch hierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt