Samstag, 8. September 2018 - 1 Monat, 25 Tage nachdem ich den Friedhof verließ

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Ich war nicht dumm, ich wusste genau was ich tat, als ich Jin dazu überredete Namjoon und Jimin zu verkuppeln. Ich wusste genau, dass ich das ganze nicht aus Herzensgüte tat, sondern aus rein egoistischen Gründen. In meinem Kopf erfand ich tausend Ausreden, aber ich wusste genau was die Wahrheit war. Der offensichtliche Grund war, dass ich Jimin und Namjoon zusammenbringen wollte, weil ich dann keine Schuldgefühle haben musste wegen meinen Gefühlen für Jin. Aber meine wahre Absicht war, dass es mir erlaubte noch mehr Zeit mir Jin zu verbringen, ohne dass ich meine eigenen Gefühle konfrontieren musste. Es war ein kleines Versteckspiel, ein kleiner Umweg. Ich spielte mir selbst vor, dass ich etwas tat, damit ich Jin näherkommen konnte, aber eigentlich war es nur eine Ausrede, weil ich noch nicht bereit war den nächsten Schritt zu gehen und Jin von meinen Gefühlen zu erzählen. Aber in diesem Moment war es für mich völlig ausreichend wie es war. Ich wusste, dass ich Jin mehr mochte als nur einen Freund. Und jetzt erstmal war es für mich in Ordnung einfach ihn einfach nur aus der Ferne anzuhimmeln und so zu tun, als wäre alles beim Alten.

Genau so lief die letzte Woche auch ab. Wir verbrachten unsere Tage gemeinsam, unternahmen weiterhin viel. Und ja, immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich unsere Ausflüge und Abenteuer als Date ansah, aber den Gedanken verwarf ich schnell wieder. Für Jin waren das keine Dates. Und jetzt hatten wir sowieso erstmal was anderes zu tun. Heute war Samstag und damit der legendäre Mitbewohner-Pizza-und-chill-Samstag, der offiziell erste Tag unserer Verkuppel-Mission. Es sollte eigentlich ganz einfach für uns werden, da die beiden ja eigentlich schon gestanden hatten, dass sie Gefühle füreinander haben und selbst wenn sie das nicht getan hätten, war es eigentlich ziemlich offensichtlich, so wie die beiden sich benahmen. Trotzdem hielten die beiden so viel Abstand zueinander, als ob eine einfache Berührung giftig wäre. Ich hatte das Gefühl, die beiden gingen eher rückwärts. Hatten sie nicht vor knapp zwei Monaten, als ich hier hergekommen bin kuschelnd RomComs angeschaut und jetzt saßen sie ein Meter voneinander entfernt. Meine egoistischen Gründe jetzt mal beiseitegelegt – die beiden brauchten wirklich unsere Hilfe!

„Ich weiß nicht, ob ich die beiden süß oder unglaublich dumm finde.", seufzte Jin, während es sich die zwei Lebenden auf dem Sofa und dem Sessel bequem machten. „Ich kenne Namjoon schon ziemlich lange. Er ist immer so sehr darauf bedacht es allen recht zu machen. Jimin hat ihm gesagt, er braucht noch etwas Zeit und bis Jimin ihm nicht das Gefühl gibt, dass es okay ist, wird er Abstand halten und ihn nicht mal irgendwie berühren, weil er Jimins Grenzen berücksichtigen will. Verdammt manchmal hasse ich, dass er ein so guter, nachsichtiger und empathischer Mensch ist.", fügte er leise hinzu. Jin schaute mich nicht an, während er das sagte, aber ich spürte trotzdem, dass er irgendwie traurig war und in mir kam auf einmal das starke Bedürfnis auf, ihn in meine Arme zu schließen und ihm zu sagen, dass alles wieder gut wird, auch wenn ich gar nicht wusste, was ihn denn traurig machte. Aber ich widerstand dem Drang und versuchte stattdessen die Stimmung etwas zu lockern. „So positiv habe ich dich ja noch nie über Joon reden hören. Normalerweise benutzt du eher Worte wie tollpatschiger Riesen Nudel-Mann", lachte ich.

Aber Jin blieb ernst. „Vier Jahre war ich jetzt an seiner Seite. Drei Jahre lang hatte ich absolut niemanden. Drei Jahre lang war ich alleine, Jungkook. Er war alles was ich in meinem Leben hatte.", sagte er, aber dieses Mal schaute er mich an und ich konnte sehen, wie die Tränen in seinen Augen glitzerten. Dieses Mal widersetzte ich mich meinem Instinkt nicht. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rutschte ich näher, sodass ich direkt neben ihm auf dem Boden saß. Vorsichtig griff ich nach seinen Händen, die in seinem Schoß lagen und umhüllte sie mit meinen eigenen Händen. Ich hielt seine Hände in meinen, als wäre es Winter und ich wollte ihn von der Kälte abschirmen. Bloß, dass seine Hände in meinen zu glühen schienen und es war nicht die Kälte, die ich forthalten wollte, sondern der Schmerz, der ihn plagte.

„Es tut mir so leid, Jin. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss. Ich war drei Monate allein und bin schon verzweifelt...", meine Stimme brach.

„Ich denke oft darüber nach, warum ich Namjoon ausgesucht habe, weißt du? Eines Tages habe ich ihn einfach in diesem Restaurant gesehen und entschieden, dass er ‚mein Mensch' sein wird. Ich weiß nicht warum, aber in diesem Moment hat einfach alles Sinn gemacht weißt du. Es war so ein Liebe auf den ersten Blick Moment, bloß ohne die Liebe. Macht das Sinn? Ach, ich weiß auch nicht... Ich konnte auf jeden Fall sofort spüren, dass er ein guter Mensch ist. Manchmal frage ich mich, ob es Schicksal war, dass ich ihn getroffen habe. Wir sind aus einem Grund noch hier auf der Welt und vielleicht musste ich Namjoon treffen, um dem näher zu kommen, was mir noch fehlt. Er bedeutet mir mehr, als ich jemals zugegeben habe."

Für einen Moment sagte ich nichts, sondern malte nur kreisförmige Muster auf Jins Handrücken, obwohl eine ganz bestimmte Frage in mir brannte gestellt zu werden. „Denkst du es war Schicksal, dass wir uns getroffen haben?", fragte ich dann schließlich doch. Jin schaute zu mir und für einen Moment verlor ich mich komplett in seinen Augen. Seine Augen wirkten dunkler als sonst, fast komplett schwarz und an der unteren Lidkannte glitzerten die Tränen, wie Sterne am dunklen Nachthimmel. Aber sein Blick war keinesfalls klat wie die Nacht, er blickte mich mit so einem weichen Ausdruck an, dass mir auf einmal am ganzen Körper warm wurde. Verdammt, mich hatte es echt mehr erwischt, als ich gedacht hatte. Aber jetzt war wirklich nicht der Zeitpunkt, um in dämlichen Schwärmereien zu versinken, ich musste jetzt für Jin da sein.

„Ich denke schon.", unterbrach Jins Stimme sanft meine Tagträumerei, „Ich war so einsam, und dann kam Namjoon und ich war immer noch einsam, aber ich hatte auf einmal eine Aufgabe, eine Beschäftigung. Erst als ich drei Jahre später Lisa traf bemerkte ich, wie sehr ich innen drin verkrüppelt war, in all den Jahren allein. Ich wusste nicht mehr, wie man mir Mitmenschen umgeht. Ich hatte keine gegenseitige Interaktion mehr gehabt mit Lebewesen seit vier Jahren. Vier Jahre! Jetzt, wo ich es laut ausspreche, klingt es noch verrückter! Lisa hat mir extrem viel geholfen, aber auch als ich dich getroffen habe, war ich noch so ungeschickt. Ich habe dich noch nicht mal eine Woche lang gekannt und schon zum Weinen gebracht! Aber du bist da geblieben und bist nicht vor mir weggerannt und du warst so geduldig mit mir. Ich habe das Gefühl, dass ich seit du da bist so viel über mich selbst herausgewachsen bin und mich in so vielen Hinsichten verbessert habe. Du hast was in mir bewegt, dass so lange tot war, Kook. Namjoon ist vielleicht ‚mein Mensch', aber ich glaube du bist ‚mein Geist'. Da muss ein Grund sein, warum du in mein Nachleben gekommen bist. So ein unglaubliches Geschenk fällt nicht einfach so zufällig vom Himmel."

Ich war sprachlos. 24 Buchstaben, unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten, aber trotzdem gab es kein Wort, das beschreiben könnte, was ich in diesem Moment fühlte. Vielleicht fühlte ich auch alles gleichzeitig, ich weiß nicht. Ich wollte lachen und tanzen, ich wollte weinen, aber vor allen Dingen wollte ich Jin fest an mich drücken und nie wieder los lassen. Ich wollte ihn so umarmen, dass er meinen Herzschlag fühlen konnte. Vielleicht machten die Morsezeichen meines Herzens ja mehr Sinn, als alle Worte, die ich in diesem Moment hätte sagen können. Ich wollte, dass er spürte wie ich mich fühlte, ich wollte es ihm zeigen. Ich ließ seine Hände los und zog ihn stattdessen auf meinen Schoß. Er war zwar etwa gleich groß wie ich und etwas breiter wie ich, was das Ganze etwas kompliziert machte. Aber sobald ich es geschafft hatte, umarmte ich ihn von hinten und legte meinen Kopf auf seine breite Schulter. Sonst war er immer derjenige gewesen, der nach mir gesehen hatte, aber dieses Mal wollte ich mich um ihn kümmern. Ich wollte, dass er sich sicher und umsorgt fühlte. Sagen wir es wie es ist, ich wollte, dass er sich geliebt fühlte.

„Du bist ebenfalls ein Geschenk.", flüsterte ich und drückte ihn fester an mich. So saßen wir eine ganze Weile und irgendwie vergaßen wir ganz unsere eigentliche Mission. Die musste in diesem Fall wohl morgen erst beginnen.

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