20.Kapitel

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 Ich gebe Emilia das Versprechen, Louis die Briefe zu überreichen, wenn ich es für richtig halte und damit verabschieden wir uns voneinander. Als ich sie umarme, ist sie immer noch ein wenig zittrig, lächelt aber, als wir uns voneinander lösen.

In meinem Zimmer breite ich die Briefe vor mir auf dem Tisch aus. Je älter sie sind, desto abgegriffener sind die Umschläge. Wie es aussieht, hat Emilia sie sehr oft in den Händen gehalten und vielleicht mehrfach darüber nachgedacht, sie Louis einfach zu schicken, sich dann aber doch nicht getraut. Auf jedem Umschlag steht Louis' Name in einer recht schönen Handschrift, neben einer Jahreszahl. Ausgeblichen ist kein Schriftzug. Bestimmt hat sie die Umschläge in einer Kiste oder einem Karton aufbewahrt und gut verborgen.

Wann soll ich Louis die Umschläge geben?

Wie wird er reagieren? Ich habe keine Ahnung und packe sie erst mal weg, damit Louis sie nicht findet. Zum Glück gibt es in meinem Zimmer einen Safe im Kleiderschrank- das ist genau der passende Ort, um diese wertvollen Briefe aufzubewahren.

In Gedanken bin ich noch immer bei Emilia, als ich mich gegen 18 Uhr auf den Weg hinunter zum Abendessen mache und dort treffe ich auch Louis wieder. Mein Freund sieht müde aus, als er sich neben mich auf die Bank fallen lässt. „Hey, na wie war dein Tag?", frage ich über das Klappern des Bestecks hinweg, das schnell den Speisesaal erfüllt. Louis schiebt sich einen Löffel Joghurt in den Mund und nickt: „Gut. Wirklich gut, aber ich bin jetzt echt müde. Unglaublich, wie anstrengend diese Reha ist."

„Was stand denn bei dir heute auf dem Plan?", frage ich interessiert und sehe Louis an, der angestrengt die Stirn runzelt und seinen Tagesplan Revue passieren lässt. „Erst Traumatherapie, da haben wir Bilder gemalt, dann Gruppenbesprechung und danach noch Rehasport."

Vielleicht ist Louis ja so müde, dass er heute Abend zum ersten Mal richtig gut schläft, denke ich und muss lächeln. Ob das Tagespensum vielleicht auch genau darauf abzielt?

Dieses Mal sitze ich nicht neben dem Lokführer, sondern neben einer jungen Frau, die in ihrem Essen herumstochert und keinen Bissen zu sich nimmt. „Schmeckt es nicht?", frage ich sie freundlich, woraufhin sie zusammenzuckt und mich mit großen Augen ansieht, als hätte ich sie angeschrien. „Alles okay", stammelt sie, nimmt ihren Teller und rutscht ein wenig von mir weg. Irritiert sehe ich sie an, wage es aber nicht, etwas dazu zu sagen. Wer weiß, was ihr passiert ist. Vielleicht habe ich sie mit der Aussage irgendwie daran erinnert.

Beim restlichen Abendessen versuche ich mir nicht anmerken zu lassen, dass mich ihre Reaktion verschreckt hat.

Allerdings sind wir hier in einer Rehabilitationsklinik für Traumapatienten, da hätte ich eigentlich damit rechnen müssen, dass eine solche Reaktion irgendwann mal kommt.

Louis bleibt an diesem Abend so lange bei mir im Zimmer, bis die Nachtschwester kommt und ihn auf seine Station schickt. Glücklich bin ich darüber überhaupt nicht, denn er hat es geschafft, fast drei Stunden in meinem Arm liegend zu schlafen, während ich einen Bericht im TV gesehen habe. Sollte das nicht Beweis genug dafür sein, dass wir ein gemeinsames Zimmer bekommen sollten? Doch die Krankenschwester will davon nichts wissen und schmettert meine erneute Bitte wieder ab.

Also müssen wir heute Nacht wieder getrennt schlafen. Vorsichtig wecke ich Louis auf, der nicht begeistert davon ist, dass er gehen muss. „Wir müssen uns an die Regeln halten", seufze ich leise und nehme ihn in den Arm. „Versuch ein bisschen weiter zu schlafen, wenn du in deinem Zimmer bist, ja?" Liebevoll gebe ich ihm einen Kuss, weiterhin beobachtet von der Krankenschwester, die erwartungsvoll in der Tür steht und darauf hofft, Louis endlich auf sein Zimmer bringen zu können.„Okay, du auch, ja?", sagt er und küsst mich erneut, dann steht er auf und schlurft mit hängenden Schultern auf die Krankenschwester zu – er weiß genauso gut, wie ich, dass er heute Nacht vermutlich wieder kaum ein Auge zumachen wird. Dabei wäre es doch so einfach, das Problem zu beheben.

Heal me • Buch III (Two Hearts Reihe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt