22.Kapitel

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 Es ist ein himmelweiter Unterschied zu der andere Prothese.

Kein unangenehmes Drücken, der Stumpf ist gleichmäßig eingefasst und es fühlt sich richtig stabil an. Allerdings muss ich nach unten schauen, um zu sehen, was mein Prothesenbein macht. „Nicht nach unten sehen", ermahnt mich Miss Richter sofort. „Aber ich weiß nicht, wo sich mein Fuß befindet."

„Das müssen Sie lernen", sagt sie ernst, lächelt dann aber, weil ich ihn doch etwas verzweifelt ansehe. „Keine Angst, dafür werden Sie ab morgen Physiotherapie haben. Und Sie haben Sensoren im Schaft, der den Druck auf den Stumpf überträgt. Diese werde ich allerdings erst einschalten, wenn Sie auch ohne sicher laufen können. Jetzt versuchen Sie mal das Gewicht auf die Prothese zu verlagern."

Ich soll was? Das kriege ich nicht hin. Niemals. Unsicher sehe ich zu Louis hin, der mich begeistert angrinst und nickt: „Na los, das kannst du."

Wie gut, dass Louis da ist. Ich sehe ihn an, nicke, um mir selber zu bestätigen, dass ich das hinkriege. „Na los, komm schon." Nochmal drückt er mich sanft am Arm und ich setze die Anweisung von Miss Richter angestrengt in die Tat um. Wie schon bei der anderen Prothese, die ich bisher als Übergangslösung genutzt habe, habe ich hier das Gefühl, mit einem tauben Bein zu gehen. Der Stumpf rutscht ein bisschen in den Schaft der Prothese und schnell greife ich nach Louis Arm, um mich festzuhalten. Mein Freund ist sofort besorgt und greift schnell um meine Taille herum, damit ich nicht umfalle. „Ich sinke irgendwie ein", erkläre ich der Prothesentechnikerin und sie nickt verstehend: „Ja. Das werden wir allerdings erst mal so lassen. Der Stumpf muss sich erst ein bisschen an die Schale gewöhnen. Wenn es dann in einigen Tagen immer noch der Fall ist, dass Sie das Gefühl haben, einzusinken, ändern wir daran etwas."

Wenig später, hat sie uns allein gelassen, nachdem sie mir noch ausführlich erklärt hat, wie ich die Prothese am Abend abnehmen kann. In zwei Tagen wird sie wieder kommen und sich ansehen, wie ich mich eingewöhnt habe.

„Wollen wir nochmal raus in den Garten?", fragt Louis, als wir endlich alleine sind, steht auf und zieht an meinem Arm. „Aber es ist schon dunkel draußen", werfe ich ein und blicke zum Fenster. Tatsächlich ist der Himmel bereits lila und nur noch am Horizont sieht man einen schmalen Streifen dunkles Rot. „Komm, es ist noch warm draußen und ich will, dass du an diesem schönen Abend ohne Krücken und mit zwei Beinen rausgehst. Na los." Aufgeregt trippelt Louis um mich herum, wie ein junger Hund und schließlich gebe ich mich geschlagen und stehe auf. Er hat ja recht. Der Abend ist viel zu schön, um jetzt im Zimmer zu sitzen und ich bin sehr froh darüber, dass Louis meinem inneren Schweinehund einen Tritt in den Hintern verpasst hat.

Bevor wir den Raum verlassen, werfe ich noch einen Blick zu den Krücken hin, doch mein Freund zieht mich mit sich: „Nein, die brauchst du jetzt nicht mehr. Ich verbiete dir offiziell, sie jetzt mitzunehmen."

Also geht es ohne Gehhilfen nach draußen, was lange dauert, denn ich schwanke ziemlich und mache so kleine Schritte, dass ich kaum voran komme. „Hm, das dauert aber lange", stellt Louis fest und schleicht neben mir her. „Na hör mal, du kannst doch nicht von mir erwarten, jetzt schon wieder wie eine Gazelle durch die Gegend zu springen." Ich versuche einen beleidigten Gesichtsausdruck aufzusetzen, muss aber grinsen, weil mich amüsiert, wie er mich ansieht.

Mit Prothese laufen, das ist eine Sache, die ich mir irgendwie nie sonderlich schwer vorgestellt hatte, die, wie sich allerdings herausstellt, wirklich herausfordernd ist. Man sollte meinen, als erwachsener Mensch laufen zu können – schließlich hat man als Kind Wochen damit zugebracht, es zu üben und dabei ständig und immerzu auf die Nase zu fallen. Es ist so normal, wie das Atmen. Aber nein, ich bin jetzt wieder an diesem Anfangspunkt und schwanke mehr, als dass ich gehe.
Bereits nach der halben Strecke wünsche ich, wir hätten die Krücken doch mitgenommen, denn ich befürchte, in dem Tempo heute nicht mehr im Garten anzukommen.

Heal me • Buch III (Two Hearts Reihe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt