32.Kapitel

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 Mr Tomlinson muss seinen Besuch beenden, bevor es Abendessen gibt. Vorher setzt er mit mir gemeinsam allerdings noch ein Kündigungsschreiben auf und verspricht, es per Post abzuschicken, sobald er zuhause ist.

Offiziell bin ich also meine Wohnung los, was ein ziemlich komisches Gefühl ist.

Wir verabschieden Mr Tomlinson im Eingangsbereich der Klinik. Er umarmt erst Louis fest, gibt ihm einen Kuss auf den Kopf und drückt dann auch mich an sich. Lächelnd sieht er uns an und sagt: „Schlaft gut, heute Nacht." Er zieht seine Jacke an und geht durch die hohen Türen hinaus auf den Vorplatz, wo er seinen Wagen geparkt hat. Arm in Arm bleiben wir auf der Treppe stehen und sehen dem Wagen nach, der zum Haupttor fährt.

„Komm, wir gehen essen", sagt Louis und greift vorsichtig nach meiner Hand. Es ist schön, dass er sich wieder traut, sie zu halten und mein ganzer Körper kribbelt vor lauter Freude. Sanft drücke ich seine Finger und er hebt den Blick, um mich anzusehen. In seinen Augen liegt Ruhe und zum ersten Mal seit Tagen keine Gehetztheit.

Obwohl es schon Abend ist, ist es immer noch sehr warm und selbst die weit geöffneten Fenster des Speisesaals bringen keine Abkühlung. Ich habe keinen großen Hunger, weil mir das Schreiben des Vermieters noch im Kopf herumspukt und nehme mir deswegen nur einen Glasnudelsalat.

Vorsichtig balanciere ich das Tablett zurück zum Tisch und fühle mich dabei ein wenig, wie beim Eierlaufen – bloß nichts fallen lassen. Auf halbem Weg hole ich Paul ein, der ein ähnliches Tempo hat, wie ich, dessen Tablett allerdings weitaus voller ist. Als ich auf seiner Höhe bin, hebt er den Blick und grinst mich an: „Hey, wir machen gute Fortschritte, findest du nicht?"

„Allerdings. Vor zwei Wochen saßen wir beide noch im Rollstuhl hier und jetzt tragen wir unser Essen selbst." Paul sieht wirklich glücklich aus und ich kann ihn wirklich gut verstehen. Wie eingeschränkt und hilflos man sich vorkommt, allein weil man sich das Essen bringen lassen muss, habe ich schließlich auch erlebt und es ist eine tolle Sache, nicht mehr auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein.

Kurz vor unserem Tisch kommen wir noch an der Getränkestation vorbei und als wir sie passieren, bleibt Paul mit einer Prothese an einer Ecke hängen. Es scheppert und kracht und einen Moment später liegt er zwischen den Resten seines Abendessens am Boden. Ich habe sein Getränk abbekommen und mein T-Shirt ist klatschnass, doch das stört mich nicht.

Der arme Paul, gerade noch war er so stolz darauf, dass er alleine laufen kann und jetzt liegt er da zwischen den Scherben und dem, was von seinem Abendessen noch übrig geblieben ist. Rasch stelle ich mein Tablett beiseite und gehe in die Hocke, um Paul auf die Beine zu helfen, doch er dreht den Kopf weg. „Hast du dir was getan?", frage ich den Exsoldaten, der den Kopf schüttelt und sich übers Gesicht wischt. Weint er?

„Alles gut", sagt er mit gepresster Stimme und pflückt sich einige Salatblätter aus den kurzen Haaren, dabei weicht er meinem Blick aus. Es ist ihm verdammt peinlich, was da gerade passiert ist. Mir würde es auch so gehen.

„Komm, ich helfe dir wieder auf die Beine", biete ich an und strecke die Hand aus. Paul ergreift sie und kommt umständlich wieder zum Stehen. Schnell halte ich ihn an den Schultern fest und lächele ihn aufmunternd an: „Das kann jedem Mal passieren."

„Ja, aber muss das beim Essen vor allen Leuten sein?", fragt Paul leise und senkt den Blick. Ohje, das geht ihm näher als gedacht. „Niemand hier, wird sich deswegen über dich lustig machen. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen und jeder hier weiß, dass es Rückschläge gibt und man auch mal hinfällt..."

Paul geht nicht wirklich auf meine Worte ein, sondern schluckt, macht einen Schritt zurück und sagt leise: „Das hat mir den ganzen erfolgreichen Moment kaputt gemacht. Zum ersten Mal heute hab ich mein Essen selber zum Tisch getragen...ich hab keinen Hunger mehr."

Heal me • Buch III (Two Hearts Reihe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt