6.Kapitel

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Diese Frage bezieht sich auf meinen Gesundheitszustand, da bin ich sicher und ich kann nur ehrlich mit den Schultern zucken.

„Ich fühle mich taub und habe noch nicht realisiert, was genau los ist. Heute soll eine Expertin vorbeikommen, die mich aufklärt, wie man mein Auge durch ein Glasauge ersetzen kann und ich bekomme sicherlich auch bald eine Prothese für mein Bein. Ich bin ein Krüppel. Aber das ist alles nicht so schlimm, wenn ich daran denke, dass du mich allein lassen könntest. Bitte Louis..." Zum ersten Mal habe ich diese Worte laut ausgesprochen und sie treffen mich ziemlich hart. Es ist, als ob es erst durch die laute Aussprache Wirklichkeit wird. „Du bist kein Krüppel – du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt und bist nicht ganz heil aus der Sache rausgekommen, aber du lebst noch und das ist doch das Wichtigste, oder?", antwortet Louis, ohne auf meine Bitte einzugehen. Ob er nicht weiß, was er darauf sagen soll?

„Mit einem Auge kann man auch gut sehen und die Prothesen heutzutage sind super. Mein Onkel hat schon versprochen, dir das Beste zu besorgen, was man auf dem Markt heutzutage bekommen kann. Mach dir darüber keine Sorgen – am Geld wird es nicht scheitern."

Das war jetzt nicht, was ich hören wollte, aber es erleichtert mich. Sein Onkel scheint auf meiner Seite zu sein. Er weiß ja auch die ganze Geschichte. Allerdings habe ich seinen Neffen betrogen und da wird auch er sicherlich nicht sonderlich erfreut darüber sein.

„Das wird alles wieder gut, Harry."

„Meinst du damit auch uns?", wage ich vorsichtig zu fragen und hoffe, dass ich nicht so verzweifelt aussehe, wie ich mich gerade fühle. Ich denke, ein Mann, der Schiffbruch erlitten hat und sich gerade an ein Floß klammert, hat positivere Gedanken, als ich. Schulterzuckend sieht Louis mich an; auch er weiß keine Antwort auf die Frage. Seine Augen sind müde, gerötet und seine Lippen umspielt ein ernster Zug.

Louis ist kein Teen mehr.

Die letzten Wochen und das Erlebte haben ihn zu einem anderen Menschen werden lassen und ich starre ihn ungläubig an. „Was ist?", fragt er unsicher, übergeht meine Frage und lehnt sich wieder an den Tisch. Viel zu weit weg von mir.

Was genau ist an ihm jetzt anders? Ich kann es gar nicht wirklich sagen. Ist es der leichte Dreitagebart, den er jetzt trägt? Oder hat sich einfach der Ausdruck in seinem Gesicht verändert?

„Du bist total erwachsen geworden", sage ich leise und sehe ihm in die Augen. „Ja? Findest du?"

„Ja. Das Kind in deinen Augen ist verschwunden." Louis beißt sich auf die Lippe und nickt knapp: „Ja, ich werde nie mehr ein Kind sein. Nicht nach dem, was passiert ist."

Meine Erinnerungen an das, was ich getan habe, prasselt mit einem Mal wieder auf mich ein und eine Schwere von Schuld fällt mir wuchtig in den Magen. Louis hat noch nicht gesagt, dass er mich trotz allem noch liebt. Ich muss es wissen – und zwar jetzt.

„Kannst du mir ins Gesicht sehen und mir sagen, dass du mich immer noch liebst?", frage ich vorsichtig und mir bricht bei den Worten fast die Stimme. Eine Angst, dass Louis das verneinen könnte, steigt in mir hoch und schnell sehe ich ihn an. Vielleicht sieht er die Panik in meinen Augen und bekommt Mitleid auch wenn tief in meinem Inneren weiß, dass ich es nicht verdient habe.

Was, wenn er mir das nach allem, was passiert ist, nicht mehr sagen kann? Oder noch schlimmer, wenn er wirklich keine Gefühle mehr für mich hat?

In dem Augenblick klopft es an der Tür und am liebsten hätte ich geschrien. Wieso muss man ausgerechnet jetzt hier reinkommen? Jetzt hat Louis eine Chance, der Antwort auf meine so wichtige Frage aus dem Weg zu gehen. Verfluchter Mist!

Eine Krankenschwester kommt mit dem Abendessen, stellt es mir auf den Nachttisch und sagt dann freundlich: „Mrs Pinkleton, die Expertin für Augenprothesen wird nach dem Essen bei Ihnen sein", informiert sie mich und wirft Louis einen Blick zu: „Mr Tomlinson kann natürlich bleiben, wenn er das gerne möchte."

Heal me • Buch III (Two Hearts Reihe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt