»Irgendwie bist du in letzter Zeit ziemlich oft angeschlagen. Vielleicht wirst du ja langsam zu alt für den Job«, meinte Will, als wir das Gebäude verließen. Der Schuss hatte mich an der Schulter getroffen, an der Stelle war im weißen Hemd unverkennbar ein roter, immer größer werdender Fleck zu sehen.
»Hör auf ständig Witze wegen meinem Alter zu machen.« Ich drehte mich zu Sebastian um, welcher die ganze Zeit schweigend neben uns lief, obwohl er eigentlich froh darüber sein sollte, dass seine Verhandlung so gut verlaufen war. Er hatte das bekommen was er wollte, aber er sah trotzdem nicht wirklich zufrieden dabei aus.
»Ab hier kann ich allein nach Hause gehen«, meinte er dann an einer Straßenecke und blieb stehen. Es war dunkel und mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er schutzlos alleine durch nicht gerade vertrauenswürdigen Seitenstraßen lief. Ich hatte immerhin gerade eine Kugel für ihn abgefangen und es wäre eine Verschwendung wenn er kurz darauf von einem Junkie überfallen werden würde.
»Sind Sie sich sicher? Wir würden Sie noch bis nach Hause begleiten. Immerhin sind wir für heute Abend Ihr Begleitschutz.« Will schien das gleiche zudenken wie ich, da er ebenfalls nicht gerade glücklich bei dem Gedanken aussah ihn alleine gehen zu lassen.
»Nein. Er braucht einen Arzt«, meinte Sebastian und deutete mit einem Kopfnicken auf mich.
»Ach, das ist nicht seine erste Verletztung und bei Weitem auch nicht die Schlimmste. Der überlebt das.« Das war einer dieser Momente, wo man wirklich merkte wie sehr sich Will um seine Mitmenschen kümmerte – nämlich überhaupt nicht.
»Ich komme wirklich allein klar. Ich sehe zwar nicht so aus, aber ich kann mich vor einem Obdachlosen gut genug verteidigen.« Er atmete aus, das Arrogante war komplett aus seinen Gesichtszügen verschwunden und er wirkte auf einmal viel jünger und zerbrechlicher, anders als er sich den ganzen Abend über gegeben hatte. Als würde die Fassade, die er die ganze Zeit aufrecht erhalten hatte nun langsam in sich zusammenfallen, weil ihm die Kraft fehlte sie noch länger schützend vor sich zu halten.
»Sie hätten mein Leben nicht retten müssen, wenn Sie dafür Ihr eigenes in Gefahr bringen. Es tut mir wirklich leid, mein gesamtes Verhalten heute Abend. Ich habe Sie einfach vollkommen falsch eingeschätzt und das hat mein Urteilsvermögen getrübt.« Er kramte in der Jackentasche seines Anzuges nach einem kleinen Zettel den er mir in die Hand drückte.
»Das ist meine private Handynummer. Wenn euch irgendetwas passiert, ihr Hilfe braucht oder Informationen sucht, zögert bitte nicht mich anzurufen, ganz egal um was es sich handelt. Ich würde mich sogar freuen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand zwischen den Häusern der nächsten Straße.
»Willst du zu Nora, oder...?« Eigentlich hatte ich keine Lust nach einem so langen Abend noch zu Nora zu gehen, vor allem da sie sich wieder beschweren würde wie es dazu kam, dass ich mal wieder auf ihrere Untersuchungsliege saß, aber uns blieb wohl keine andere Wahl.
Nora war nicht wirklich eine Ärztin, aber hatte alles was sie wissen musste von ihrem Vater gelernt, welcher illegal als Arzt in dieser Gegend arbeitete und zu dem die ganzen Schlägertypen und Mafiamitglieder gingen, wenn sie mal wieder etwas abbekommen hatten.
Ich kramte mein Handy aus der Tasche, schaltete es ein und wählte Noras Nummer. Sie ging nach dem zweiten Klingeln ran.
»Was ist denn?« Ihre gereizte, übermüdete Stimme war kaum zu überhören und ich bereute es schon fast sie angerufen zu haben.
»Eine Kugel steckt in meiner Schulter fest.« Sie murmelte leise etwas, was nicht gerade freundlich klang, dann seufzte sie.
»Du bist doch bestimmt wieder mit Will unterwegs, oder? Kommt vorbei.« Sie legte auf und ich ließ mein Handy zurück in die Tasche gleiten.
Schweigend machten wir uns auf den Weg, aus den Augenwinkeln betrachtete ich Will, der starr gerade aus schaute.
Wir waren nun schon seit drei Jahren Partner, wohnten zusammen, erledigten Aufträge und vertrauten uns gegenseitig unser Leben an. Manchmal fragte ich mich, was er wohl tun würde, wenn ich – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr da wäre, weil ich wegging oder dergleichen, was würde er dann tun? Vermutlich würde er sich einen neuen Partner suchen, jemand der vielleicht auch viel besser zu ihm passte und für diese Art von Leben besser gemacht war. Töten war für mich etwas alltägliches, aber es war ungewohnt dass ich mit jemandem zusammen arbeitete. All die Jahre war ich immer allein gewesen, hatte nie den Drang verspürt jemanden in alles mit reinzuziehen, im Gegenteil ich hatte schon so oft darüber nachgedacht mir einen normalen, anständigen Job zu suchen aber war jedes Mal gescheitert. Irgendwann steckte man zu tief drin und dann war nicht einfach an aufhören zu denken.
»Worüber zerbrichst du dir so den Kopf Seth?«, fragte Will dann und riss mich so aus meinen Gedanken.
»Über nichts wichtiges.«
Wie bogen in die Straße ein, dann betraten wir das Gebäude, gingen mit einem Kopfnicken an den beiden Wachmännern vorbei und betraten den großen Raum.
Man hatte sämtliche Trennwände entfernt, sodass aus einer kompletten Wohnung ein einziger, riesiger Raum entstanden war, die einzelnen Liegen wurden durch Vorhänge getrennt.
Nora saß auf einem Drehstuhl in der Ecke neben der Tür und starrte auf den Bildschirm eines Computers, dann tippte sie etwas ein und drehte sich zu uns um, wobei ihre langen, blonden Haare, welche sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, hin und her wippten.
»Liege vier ist frei, setz dich schon mal, ich komme sofort.« Ich nickte, schob den Vorhang vor Liege vier zur Seite und setzte mich auf die harte Untersuchungsunterlage. Will stellte sich daneben und sagte wie immer kein Wort. Es war still im Raum, vermutlich weil um diese Zeit nicht viele hier waren – zumindest noch nicht.
Nora schob den Vorhang zur Seite, sie hatte wie immer bereits alles dabei was sie brauchte.
»Ausziehen«, sagte sie nur in ihrer üblichen, unfreundlichen Art und ich tat was sie mir sagte. Sie begutachtete die Stelle sehr genau, dann öffnete sie ihre Kiste, wo sie jede Menge steriles Werkzeug drin hatte.
»Es wird weh tun. Wie ich dich kenne willst du sicher keine Betäubung.« Ich schüttelte mit dem Kopf, ich war Schmerzen immerhin gewöhnt, dann machte sie sich an die Arbeit. Es tat verdammt weh, als sie in der Wunde herumstocherte um die Kugel herauszuholen, aber ich hielt still und biss die Zähne zusammen um mir nichts anmerken zu lassen.
»Wie kommt es eigentlich, dass du schon wieder hier liegst? Habe ich nicht vor fünf Wochen erst eine tiefe Stichwunde behandelt?« Ich erwiderte nichts darauf und auch Will schaute nur starr auf den Boden. Als sie fertig war, gab sie mir Anweisungen, was ich alles beachten sollte, sagte dass sie das Geld wie immer bar in spätestens drei Tagen erwartete und wir gingen nach Hause. Kaum war meine Zimmertür hinter mir ins Schloss gefallen, ließ ich mich aufs Bett sinken und schlief sofort ein.
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Nameless (Boyslove)
Novela JuvenilWill und Seth leben in einer Stadt, die unterschiedlicher nicht sein könnte: Es gibt die prachtvollen, schönen Stadtteile, und die verwahrlosten Viertel, wo der Abschaum der Gesellschaft lebt der vermutlich nie eine echte Chance auf ein besseres Leb...