8.Kapitel

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~Rückblende~

»Hey, steh auf«,flüsterte jemand und ich schlug die Augen auf, brauchte einen Moment bis ich Vine erkannte, der mich musterte. Er legte den Finger auf die Lippen um mir zu signalisieren dass ich ruhig sein sollte, da die anderen noch in ihren Betten lagen und friedlich schliefen.

»Was ist denn?«, flüsterte ich verschlafen. Vine grinste mich nur an, dann machte er eine Handbewegung die deutlich machte, dass ich ihm folgen sollte. Leise stand ich auf, bemüht niemanden der anderen im Schlafsaal zu wecken. Wir waren zwölf und schliefen in einem Raum, aufgeteilt auf sechs Hochbetten. Da ich einer der Jüngsten war schlief ich auch unten – die oberen, guten Plätze suchten sich meist die Älteren aus, aber ich war froh darüber in einem der unteren Betten zu schlafen.

Wir gingen Richtung Tür, dann schlichen wir uns leise raus. Es war uns normalerweise untersagt Nachts nach draußen zu gehen, außer wenn wir auf Toilette mussten, aber Vine hatte sich noch nie an Regeln oder Vorschriften gehalten. Er war einer der wenigen, welcher noch lachen konnte und scheinbar fröhlich war, trotz allem was sie uns hier antaten. Auch wenn es vermutlich nur eine Fassade war um all den Schmerz zu verbergen, den jeder von uns fühlte.

Wir liefen durch den Gang, achteten darauf kein lautes Geräusch zu machen, dann bog er ab und hielt vor einer Abstellkammer. Einen kurzen Moment zögerte ich, was er zu bemerken schien, denn er lächelte mich freundlich an.

»Keine Angst, ich will dir nur etwas zeigen. Wir sind in spätestens fünf Minuten wieder im Bett.« Ich sah ihn aufmerksam an. Vine war einer der wenigen, der auch zu den Jüngeren immer nett war und sie sogar in Schutz nahm, oder seinen Kopf hinhielt. Er würde mir nichts antun, dafür hatte er mir schon zu oft geholfen und tat es immer noch.

Leise schlüpfte ich hinter ihm in die Abstellkammer. Es war stockdunkel, doch Vine hatte eine kleine Taschenlampe dabei, die er höchstwahrscheinlich einem der Ausbilder aus der Tasche geklaut hatte, es wäre immerhin nicht das erste Mal dass er etwas mitgehen ließ, dann schaltete er sie an. Er ging auf die Knie, schob seinen Oberkörper unter ein Regal, wobei er ein paar Kartons zur Seite schob, dann hörte ich wie er irgendetwas über den Boden zog.

»Was tust du da?«, fragte ich leise, bekam nun doch etwas Panik. Wenn sie uns hier erwischen würden, dann würde vermutlich die Dunkelkammer auf uns warten und allein bei dem Gedanken daran fröstelte es mich.

Vine kam wieder nach oben, eine Holzkiste, kaum größer als ein Notizzettel, in der Hand und richtete sich auf. Er klopfte den Staub herunter und ich warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Das habe ich gefunden, als ich letzte Woche Putzdienst hatte. Sie ist nicht einmal so alt, vielleicht fünf Jahre.«

»Was ist drin?« Obwohl ich riesige Angst hatte, war ein Teil von mir neugierig.

»Einer von denen die früher hier waren hat sie anscheinend hier versteckt. Sein Name war Matthew.« Sofort machte es in meinem Kopf Klick, Ares hatte schon einmal von ihm erzählt – als Negativbeispiel, was Leuten wie Vine blühte, wenn sie die Regeln einmal zu oft brachen. Ares, welcher von den jetzigen schon am längsten hier war, war damals etwa in meinem Alter gewesen, als Matthew, welcher ebenfalls von Vorschriften nicht viel gehalten hatte, versuchte zu Fliehen um all dem hier zu entkommen, scheiterte allerdings kläglich daran was er mit dem Tod bezahlte.

»In der Kiste war eine Liste von Namen und einen persönlichen Gegenstand, den er hereingeschmuggelt hat.« Er faltete den kleinen Zettel auseinander und reichte ihn mir. Ein Name sprang mir sofort ins Auge: Ares. Dahinter stand in Klammern seine richtiger Name, Steve. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass ich Salo schon seinen richtigen Namen sagen gehört hatte, immer dann wenn die beiden glaubten allein zu sein oder sich etwas zuflüsterten.

Ab dem Moment, wo wir dieses Gebäude betraten, war unser vorheriges Leben ausgelöscht. Wir bekamen einen neuen Namen, auf den wir hören sollten und es war uns untersagt uns untereinander mit unseren richtigen Namen anzusprechen, sollten diesen möglichst vergessen, doch natürlich hielten nur wenige sich daran. Ich konnte mich an meinen eigentlichen Namen nicht erinnern, deswegen war „Seven" für mich der Einzige richtige den ich kannte.

»Warum zeigst du mir das?«, fragte ich und betrachtete den Gegenstand der darin lag: Es war ein Ring, in dem irgendetwas eingraviert war.

»Sie wollen versuchen uns zu Tötungsmaschinen zu machen, foltern uns, üben psychischen Druck aus, nehmen uns alles was unsere Persönlichkeit ausmacht und dass alles damit wir später mal in einer Spezialeinheit arbeiten oder den Dreck von irgendwelchen reichen Schnösel und Politiker wegräumen. Sie manipulieren uns, bis wir denken dass es das Einzige ist was wir tun können, bis wir selbst daran glauben dass es gut so ist. Ich möchte, genauso wie es dieser Matthew einmal versucht hat, Fliehen und allen beweisen dass sie nicht für immer hier gefangen sind.«

»Das ist wahnsinnig, du weißt dass es beinahe unmöglich ist von hier zu fliehen und die meisten wollen das nicht einmal.« Vine seufzte.

»Das liegt daran, dass sie sich mit ihrer Rolle abgefunden haben und schon so sehr manipuliert wurden. Je jünger sie sind, umso einfacher kann man ihnen diese Denkweise aufzwingen. Aber ich werde mich niemals damit abfinden und ich weiß, dass du es auch noch nicht getan hast.« Er sah mir fest in die Augen, als würde er genau wissen was ich wirklich dachte und fühlte. Zwar lag Vine nicht falsch, aber ich war gerade erst zwölf, fast dreizehn Jahre alt, mir fehlte der Mut dafür um irgendetwas zu wagen. Und ich machte mir auch nichts vor: Selbst in drei Jahren, wenn ich so alt sein würde wie Vine, würde mir das nötige Zeug dazu fehlen.

»Warum zeigst du ausgerechnet mir das?«, fragte ich ihn und er lächelte, ging wieder auf die Knie und schob die Kiste zurück auf ihren Platz.

»Natürlich ist es ein Risiko, aber du würdest mich nie verraten, nicht wahr?« Ich zuckte mit der Schulter.

»Abgesehen davon, dass ich nichts davon hätte, bin ich dir zu viel schuldig.« Er klopfte mir auf die Schulter und sein Grinsen sagte mir, dass er noch etwas anderes dachte, dann gingen wir wieder nach draußen und schlichen zum Schlafsaal zurück.

Kaum hatten wir ihn betreten, baute sich Ares vor uns auf. Er war ganz drei Köpfe größer als ich, hatte eine beachtliche Menge an Muskeln und wirkte gefährlich und angsteinflößend. Er hatte braune Haare, blaue, stechende Augen und eine Narbe über dem Auge, welche von einer heftigen Prügelei stammte.

»Wo wart ihr?«, zischte er leise, wobei seine Stimme mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Vine hingegen starrte selbstsicher zurück, ohne eine Spur von Angst oder Unwohlsein.

»Beruhig dich, wir waren nur einen kleinen Ausflug machen. Keine Angst, ich habe ihm kein Haar gekrümmt, auch wenn dich das vermutlich ohnehin nicht groß interessieren würde.«

»Dass du die Regeln ständig missachtest ist deine Sache, aber hör auf andere, jüngere mit reinzuziehen. Wenn du bestraft wirst, bist du selbst Schuld, aber wenn andere wegen dir unnötige Stafen bekommen schadest du ihnen.« Vine zuckte nicht einmal vor den harten, aggressiv klingenden Worten von Ares zurück. Einige der anderen begannen sich nun zu regen, schienen von dem nächtlichen Aufruhr wach zu werden.

»Du bist der Letzte der das Recht hat sich darüber aufzuregen. Ich weiß genau was du treibst, ich habe euch letztens gesehen.« Ares Auge zuckte, ein Anzeichen dafür dass er jeden Moment die Beherrschung verlor und er sah auch aus, als wäre er kurz davor auf Vine loszugehen, doch dann ballte er nur die Hände zur Fäuste und funkelte ihn wütend an, ehe er umdrehte und auf sein Bett kletterte. Noch immer von der seltsamen Szene und der Reaktion von Ares verwundert, krabbelte ich nun auch in mein Bett, zog die Decke über den Kopf und rollte mich zusammen.

Nameless (Boyslove)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt