4 Durcheinander

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Als ich endlich in meinem neuen Apartment ankomme, mein Zeug abstelle und tief durchatme, habe ich immer noch nicht verstanden, was gerade geschehen ist. Das ist mir noch nie passiert. Ich wusste nicht, dass das überhaupt möglich ist.

Meine Großtante hat mir schon früh erklärt, dass wir einer langen Linie von Sirenen abstammen, die sich bis zu Zeiten Odysseus zurückführen lässt. Damals sind wir noch etwas Kaltblütiger gewesen, da wir Seefahrer in den Tod gerissen haben. Doch auch heute noch kann niemand unserer Stimme entkommen - nicht einmal wir selbst - und das macht uns sehr gefährlich und mächtig.

Aber es macht und auch hin und wieder einsam, wie Großtante oft betont hat. Die Sucht nach Sex erschwert es unseren Lebenspartnern uns zu lieben und vertrauen. Es ist nun mal sehr wahrscheinlich, dass wir sie betrügen.

Darüber habe ich mir aber nie groß Gedanken gemacht, da mir sowieso nicht nach einer Beziehung ist. Hollywood und Co. will uns zwar ständig einreden, wir Frauen könnten nur mit einem gutaussehenden Mann an unserer Seite ein Happy End erleben, aber das ist Schwachsinn. So ein Mann, der ständig an einem klebt, ist nur Ballast.

Trotzdem muss ich gerade an den Fremden aus dem Fahrstuhl denken. Er kommt mir gar nicht als Ballast vor, eher im Gegenteil. Ihn jetzt hier zu haben ...

Verdammt.

Ich zwicke mir in den Arm und stelle die viel wichtigeren Fragen: Wer ist das gewesen und wie konnte er sich meiner Sirenenstimme entziehen?

Bin ich zu nervös gewesen, zu aufgeregt?

Oder habe ich etwa meine Fähigkeit verloren?

Das ist doch absurd. Oder?

Grübelnd klettere ich über die unausgepackten Umzugskartons ins Badezimmer und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, um einen kühleren Kopf zu bekommen. Es hilft mir tatsächlich etwas.

Meine Finger krallen sich an das Waschbecken und unter der dünnen Haut werden die Knöchel erkennbar, so fest klammere ich mich fest. Mein Kopf schwirrt und im Spiegel schaut mich eine magere, junge Frau an, deren Schlafmangel an ihren tiefen Augenringen erkennbar ist. Für einen Moment kommt sie mir fremd vor, doch es ist das selbe Gesicht wie immer, das mich ansieht.

Anders dagegen ist die Umgebung und als ich tief Luft hole, verdränge ich langsam die Gedanken an den seltsamen Fremden und konzentriere mich darauf, wo ich mich befinde: in meiner eigenen Wohnung!

Das hier ist jetzt mein Badezimmer, meines ganz allein. Noch sieht es relativ unbewohnt aus, aber über dem Spiegel könnte ich meine Lichterkette aufhängen und neben dem Waschbecken ist Platz für ein oder zwei Zimmerpflanzen. Je mehr davon, umso besser.

Ich liebe Pflanzen in der Wohnung! Ohne sie fehlt meiner Meinung nach etwas, und mit ihnen bekommt jeder Raum – noch so eklig, dunkel oder schmutzig – eine viel wunderbarere, frische Atmosphäre.

Apropos, ein Großteil meiner Pflanzen befindet sich noch unten im Auto. Mit neuem Elan schnappe ich mir meinen Schlüsselbund und verlasse die Wohnung. Auf dem Korridor ist niemand und es erfüllt mich fast mit Enttäuschung, doch nur fast.

Ich drücke auf den Knopf, um den Fahrstuhl zu rufen. Doch die Unruhe packt mich. Einen Moment zögere ich noch, dann laufe ich durch die Etage und lese alle Namensschilder. 

Smith, Katsaros, Jenkins, Holden und Sandusky. 

Meine neuen Nachbarn, denke ich schmunzelnd und kann nicht vermeiden, wieder an den Fremden zu denken. Er hat gewirkt, als würde er hier oft sein. Vermutlich wohnt er hier, aber ich habe nicht mehr gesehen, zu welcher Tür er gegangen ist.

Der Aufzug erreicht das Stockwerk und öffnet sich. Rasch löse ich mich von den Namensschildern und steige ein. Meine Gedanken verbanne ich wieder auf die Kiste mit den Zimmerpflanzen, die ich hole und anschließend in meinem Apartment abstelle.

Meine Schritte sind schwer geworden und ich weiß, dass die Müdigkeit mich einholt. Trotzdem räume ich noch ein paar Sachen aus, um die erste Nacht gemütlich zu haben. Dazu gehört nicht nur, das Bett zu beziehen oder das Bad einzuräumen, sondern auch mein Karton mit Vibratoren.

Als ich ihn unter das Bett schiebe, denke ich kurz wieder an den Fremden aus dem Aufzug. Meistens mache ich es mir nur kurz vor dem Schlafengehen selbst, denn so bin ich entspannt, um gut einzuschlafen. Aber noch viel lieber habe ich irgendjemanden verführt und meinen Spaß bei 'echtem' Sex.

Der Fremde aus dem Aufzug kommt dafür aber erst einmal nicht in Frage. Zu sehr geistert er in meinen Gedanken herum als dass seine Nähe mir gut tut. Nein, ich muss mich von ihm distanzieren. Das klappt am besten, wenn ich mich mit jemand anderem beglücke.

Eigentlich habe ich das für heute nicht mehr geplant gehabt. Der Tag ist lang gewesen. Der Umzug ist anstrengender gewesen als geplant, ständig sind auch noch Leute vorbeigekommen um sich zu verabschieden und soziale Interaktionen ermüden mich unheimlich schnell. Am liebsten bin ich allein oder habe Sex, aber einfach nur Small Talk führen? Ich hasse es.

Jetzt jedoch will ich, trotz meiner Müdigkeit, noch nicht einfach ins Bett. Ich will Sex haben und mir den ersten Mann der Großstadt aufreißen. Das sollte nicht so schwer sein, vor allem weil der Campus nicht weit ist und sich hier überall Studenten tummeln sollten.

Als ich die sozialen Netzwerke durchstöbere, entdecke ich auch schnell eine Trimester Opening Party mit Lagerfeuer, die gar nicht weit entfernt stattfindet. Die Vorstellung auf viele Studenten treibt mich an und so mache ich mich etwas frisch, schnappe mir wieder meinen Schlüsselbund mit den neuen Schlüsseln und verlasse das Apartment.

SIRENEN | Band 1: ANAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt