22 Tag Vier

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Es ist Sonntag und normalerweise würde ich an einem solchen Tag lange schlafen, lange nicht aufstehen und wenn ich aufgestanden bin, sehr schnell wieder im Bett liegen, um erneut zu dösen, fernzusehen oder mich zu befriedigen. Heute ist alles anders.

Ich bin unruhig, kann mich nicht still halten und laufe schon vor acht Uhr morgen im Kreis herum, obwohl ich wenig geschlafen habe. In meinem Kopf spuken ständig Ideen, wie ich jeden Moment an Sex kommen könnte. Wo der nächste Potenzielle Liebhaber wäre. Wo meine Vibratoren wären. Wo meine Finger wären, die im Zweifel wunderbar ausreichen würden. Wo Pete wäre ... wobei er natürlich nicht mit mir schlafen würde. 

Aus meinem Fenster heraus beobachte ich, wie er unten in einen schwarzen Wagen einsteigt. Die Frau, die ich schon einmal bei ihm gesehen habe und die vor allem mich nackt gesehen hat, ist auch dabei. Statt einem langen, roten Kleid trägt sie dieses mal ein langes, schwarzes. Sie sieht unfassbar schön aus.

Gemeinsam mit Pete fährt sie weg. Vielleicht zur Beerdigung. Vielleicht auf ein gemeinsames, spätes Frühstück oder ein Mittagessen, auf ein Date. Die beiden gehen so vertraut miteinander um und ich habe gesehen, wie seine Hand ihren Rücken berührt hat, kurz bevor sie das Auto erreicht haben. Ein schwarzer BMW und obwohl ich keine Ahnung von Fahrzeugen habe, kann ich doch erkennen, dass er teuer gewesen sein muss.

Wenn Pete so viel Geld hat, wieso jobbt er als Tutor an der Universität? Generell wirkt er so gar nicht wie jemand, der sein Leben für die Wissenschaft aufgeben würde. Ich sehe ihn eher im Chefsessel eines riesigen Unternehmens als im Hörsaal, und trotzdem habe ich ihn vorhin erneut auf der Seite der Universität gegoogelt. 

Er hat drei abgeschlossene Master. Computer Science, Engineering und Cyber Security. In letzterem arbeitet er gerade an einem Doktortitel. Zwei Jahre ist er schon in Denver, davor ist er vier Jahre in Harvard gewesen und davor verliert sich seine Spur, beziehungsweise ein paar griechische Webseiten wurden mir noch vorgeschlagen, aber da fehlt es mir an Sprachkenntnissen. 

Als Hacker kann ich mir Pete jedenfalls gar nicht vorstellen. Allein, dass er den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzt und sich mit Code beschäftigt, kommt mir seltsam vor. Er wirkt eher wie jemand, der im Wald Holz hackt, dann in den zehntausend Dollar Smoking wechselt und in der Limousine zum roten Teppich vorgefahren wird, wo er dann der Presse erklärt, wie sein Unternehmen den Welthunger gestoppt oder die Börse gesprengt hat. Meine Fantasie stellt sich einiges vor, aber nicht, wie Pete sich mit Cyber Security beschäftigt.

Hoffentlich hat meine Großtante ein paar Antworten auf Lager. Zumindest ist das ein großer Anreiz auf das Mittagessen mit meinem Vater. Bis dahin räume ich noch die Wohnung etwas auf, um ihn nicht zu erschrecken. Er weiß zwar mein ganzes Leben schon, wie unordentlich ich bin, aber ich muss ihm ja nicht sofort beweisen, wie dreckig mein erstes eigenes Apartment ist. 

Dreckig ... sofort denke ich wieder an Sex. 

Wie halten das andere Menschen nur aus, wenn sie sogar Jahrelang keinen Sex haben? Dieses Untervögeltsein ist ja grausam! 

Ich hole tief Luft. Heute ist der vierte Tag. Noch drei Tage und ich habe die Wette gewonnen. Dann muss mir Pete sagen, wer er ist. Das werde ich ja wohl aushalten!

... 

"Dad!", rufe ich von weitem und winke dem roten Pick-Up, der auf den Parkplatz biegt. Hinter dem Lenkrad sehe ich meinen Vater breit grinsen. Die blonden Haare stehen ihm wild vom Kopf und erinnern ein bisschen an Owen Wilson, allerdings ist Dad sehr kräftiger gebaut und vor allem auch größer, was mir bewusst wird, als er aus dem Pick-Up aussteigt und seine Beine im ersten Moment einfach nicht enden wollen. 

Ich renne auf ihn zu und ehe er die Tür zuschlägt, falle ich ihm schon um den Hals und presse mein Gesicht gegen seine Brust, die bebt, als er lacht und mich in die Umarmung schließt. Er riecht nach Pferdekoppel und frischem Heu, nach Heimat.

"Hast mich doch vermisst, hm?" Er streichelt über meinen Rücken und sofort kommen mir versaute Gedanken, die ich nicht haben will, weil das hier mein Vater ist. 

"Ja, hab ich wohl." Ich löse mich von ihm und grinse. "Du mich ja hoffentlich auch!"

"Aber klar!" Dad lacht. "Es schläft sich echt seltsam, wenn das Haus so still ist."

Jetzt muss ich auch lachen und gemeinsam gehen wir hinüber zur Pizzeria. Ein Kellner, der so jung ist, dass einige Pickel auf seiner Nase sitzen, führt uns zu einem Tisch am Fenster und reicht uns Karten. "Danke."

Als der Kellner weggeht, starre ich ihm unverfroren auf den Hintern. Der ist schon ein bisschen zum Anbeißen! Hm ... es wäre so schön, wenn ich ... drei Tage noch!

"Ana?" Dad beobachtet mich durch seine eckige Brille skeptisch. "Alles in Ordnung?"

"Ja."

"Der Kellner ist doch weit unter deiner Liga", sagt Dad und klappt die Karte auf, als führen wir hier ein völlig normales Gespräch wie jeder andere auch im Restaurant. Apropos die anderen, an dem Tisch neben uns sitzt ein Pärchen, sie schwarz und mit krausigen Locken, er beinahe rothaarig und Sommersprossen. Bestimmt tolle Kandidaten für einen Dreier!

"Ana?"

"Ja, ich bin da." Ich setze mich aufrecht hin. "Was hast du gesagt?"

Dad runzelt die Stirn und beugt sich zu mir vor. Seine blauen Augen, die durch die Brille größer erscheinen, ruhen einen Moment auf mir und verraten nicht genau, was er denkt, aber Sorgen scheint er sich zu machen. Dann fragt er: "Wann hattest du das letzte Mal Sex?"

"Ich? Ähm ..." Ich zögere und die Falten auf Dads Stirn werden noch tiefer. 

"Vor vier Tagen ungefähr", rücke ich schließlich heraus. Für normale Menschen ist das wahrscheinlich eine völlig gewöhnliche Zeitspanne und insbesondere für solche ohne fester Beziehung vermutlich sogar eine ziemlich kleine, aber für mich ist das ewig und Dad weiß das. Deshalb scheint er auch ehrlich verwirrt zu sein. "Warum?"

Ich zucke mit den Schultern. 

"Du wolltest doch genau deshalb unbedingt aufs College und nach Denver. Viele Männer, viele Optionen. Und jetzt enthältst du dich?"

"Ist 'ne lange Geschichte."

Dad hebt erwartungsvoll die Augenbrauen und wartet darauf, dass ich mehr erzähle. Einen Moment versuche ich, eine Ausrede zu finden, aber dann gebe ich auf.

"Okay. Ja." Ich seufze. "Ist vor allem eine dumme Wette."

"Aha?"

"Da ist so ein Kerl ..."

"Aha?" Dad wiederholt sich, aber dieses Mal noch lauter. Seine Augenbrauen sind gehoben und ich zögere, ehe ich ihm schließlich alles von Pete erzähle. Abgesehen von Willy. Oder der Sache auf dem Campus, die so unwirklich gewesen ist, dass mein Verstand sie meist verdrängt. Also eigentlich erzähle ich nur, dass Pete glaubt, ich sei sexsüchtig und dass er auf meine Sirenenstimme immun ist.

"Hast du Großtante gefragt, wer gegen Sirenenstimmen immun ist?", beende ich meine Erzählung und fiebere auf seine Antwort hin. 

Dad neigt leicht den Kopf und kaut dabei auf der Unterlippe herum. Kein gutes Zeichen, absolut gar kein gutes Zeichen. Verflucht! 

"Sie wollte nicht mit mir reden. Sie redet nur ständig von Monsterjägern und dass die Stadt zu gefährlich für dich sei."

Ich verdrehe die Augen. Mit verschränkten Armen grummle ich etwas in mich hinein und versuche, meine Wut nicht an Dad auszulasten. Ich weiß, dass er nichts dafür kann. Er hat keine Chance gegen Großtante, wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hat oder wenn sie generell wieder etwas wirr im Kopf ist. Sturkopf ist sie allemal. 

"Aber ich dachte immer, wir sind immun gegen nahe Familienmitglieder", murmelt Dad weiter. "Aber ich wüsste nicht, wie dieser Pete mit uns verwandt sein soll."




SIRENEN | Band 1: ANAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt