Nine days afterwards - But you're dead

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Wie Yoongi auf dem Geländer der Brücke stand, die Arme ausgebreitet und den Blick zum Himmel gewandt, sah er aus wie ein Engel. Ein Engel, der in die niemals ganz dunkle Nacht Seouls gehüllt war, in dessen Augen sich abermillionen Lichter spiegelten. Ein Engel, der nicht fliegen konnte. Ein Engel, der fallen würde. Die Autos rasten über die Brücke ohne ihn zu beachten, die meisten nahmen nicht mal Notiz von ihm. Die Stadt schien zu atmen, es schien, als würde ihr Herz pulsieren. Yoongi wartete darauf, dass sein Leben an ihm vorbeiziehen würde, in tausenden zusammenhangslosen Bildern, er wartete darauf, dass er Reue oder Genugtuung verspürte, wenn er in die Tiefe sah, doch da war nichts. Nur Jimin beherrschte seine Gedanken und seine Gefühle wurden nach wie vor von einer seltsamen Leere und dem gigantischen Schmerz dominiert, der sich in so viele Nuancen aufteilte, dass er sie gar nicht alle benennen konnte. "Yoongz! Komm sofort von diesem Geländer runter!" Yoongi drehte sich langsam um, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Diese Stimme kam ihm vertrauter vor als seine eigene, doch er war fest überzeugt, dass er sie sich nur einbildete. Doch tatsächlich stand eine ein wenig verblasste, ein wenig durchsichtige Version von Jimin hinter ihm. In seinen braunen, facettenreichen Augen spiegelten sich Liebe, Ärger und Verwirrung wieder, doch sie alle wurden von einer schier unendlichen Sorge überschattet. "Du... du lebst?", fragte Yoongi unsicher. Ihm war klar, dass das nicht der echte Jimin sein konnte, so war sein Freund doch tot und auch nicht durchsichtig, doch seine Vernunft hatte sich schon längst von ihm verabschiedet und der Hoffnung ihren Platz überlassen. "Nein. Ich bin gestorben, aber du bist es nicht." Jimin sah ihn durchdringend an. "Noch nicht. Aber ich komme zu dir, Jiminie.", versicherte Yoongi, doch dadurch verfinsterte sich Jimins Blick bloß. "Wenn du jetzt da runterspringst, dann bringe ich dich höchstpersönlich um!", drohte er. Yoongi konnte nicht anders als zu lächeln. Diese seltsame Gestalt sah nicht nur aus wie Jimin, sie sprach auch wie er. Yoongi drückte sich mit den Füßen ab und sprang. Katzenartig landete er auf dem gepflasterten Fußweg der Brücke. "Bist du Jimins Geist?" Eine andere Erklärung fiel Yoongi auf die Schnelle nicht ein, so weigerte er sich doch standhaft zu denken, dass er sich das ganze nur einbildete. "Nein.", antwortete Jimin nüchtern. "Was bist du dann? Und wer bist du dann?" "Das wirst du noch selbst herausfinden, Yoongz. Du nennst dein Studio doch Genius Lab, nicht ich. Aber wir müssen jetzt nach Hause. Du hast heute bestimmt mal wieder nichts richtiges gegessen." Jimin verschränkte seine durchscheinenden Arme vor der Brust. "Das musst du grade sagen, Jiminie.", antwortete Yoongi trotzig und imitierte die Geste. "Ich bin tot, ich kann nicht mal was essen.", entgegnete Jimin siegessicher. "Ja, aber selbst als du noch gelebt hast hatten wir diese Diskussion oft genug." In Yoongis Augen bildeten sich Tränen, als ihm wieder in voller Gänze bewusst wurde, dass Jimin eigentlich tot war. "Und denkst du wirklich, dass sie jetzt anders enden wird?" "Eigentlich nicht, aber ich habe es jedes Mal gehofft. Jedes verdammte Mal." Inzwischen musste Yoongi sich sehr zusammenreißen nicht in Tränen auszubrechen, sein Gehirn wurde mit unzählbaren Erinnerungen an Jimin geflutet. "Nicht weinen, Yoonglez. Sonst weine ich gleich auch. Wir gehen jetzt nach Hause, okay?" "Wenn du mitkommst wird es endlich wieder zu Hause."

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