Yoongi legte den Stift beiseite und schlug das schwarze Tagebuch behutsam zu. Kurz betrachtete er noch den glanzlosen Stoffeinband, dessen linke untere Ecke bereits leicht nach innen geknickt war. Nachdem jedoch beide Gegenstände ihren Weg in seine Nachttischschublade gefunden hatten drehte er sich um, um stattdessen den schlafenden Jimin zu betrachten. Sein Blick glitt über das schimmernde Gesicht seines halbdurchsichtigen, verstorbenen Freundes und blieb an seinen vollen Lippen hängen, die immer so perfekt auf seine eigenen gepasst hatten. Er streckte seine Hand aus und strich über Jimins Wange, fast bildete er sich ein seine weiche Haut unter seinen Fingern zu spüren, seinen gleichmäßigen Atem zu hören. Fast bildete er sich ein, alles wäre so wie immer, doch der vernünftigere, realitätsbewusstere Teil seiner selbst übernahm die Vorherrschaft über sein Denken und schleuderte ihn in die Realität zurück. In eine Realität, in der Jimin vor elf Tagen verstorben war. An genau dem Tag, an dem Yoongi ihn endlich fragen wollte, ob er für immer an seiner Seite bleiben möchte, an dem Tag, an dem er für immer von Yoongis Seite gewichen war. Jimin selber schlug in diesem Moment seine Augen auf, kniff sie jedoch gleich darauf wieder zu, als er vom unbarmherzig hellen Licht des späten Morgens geblendet wurde. Als er seine Augen erneut öffnete, dieses Mal langsamer, um sich an das Licht zu gewöhnen, sah er Yoongis tränenüberströmtes Gesicht vor sich. "Yoonglez! Nicht weinen. Schhhh, alles gut. Ich bin doch da.", versuchte er ihn zu beruhigen, doch seine Bemühungen blieben erfolglos. "Nein, nichts ist gut. Du bist eben nicht da und das ist das Problem.", schluchzte Yoongi. Wie gerne würde er sein Gesicht jetzt in Jimins Halsbeuge vergraben, seinen wunderbaren Geruch einatmen und ihm alles erzählen, während Jimin ihm beruhigend über den Rücken streichen würde. Zusammen hätten sie bestimmt schon eine Lösung für alles gefunden, so war es immer gewesen. "Ich glaube dieses Gespräch hatten wir schonmal. Aber es bringt dir nichts, wenn du den ganzen Tag nur weinst. Steh lieber auf, ich habe heute noch etwas mit dir vor!"
Einige Zeit und etliche Diskussionen später spazierten Yoongi und Jimin den Strand Incheons entlang. "Weißt du wie viel Zeit wir hier immer verbracht haben?", fragte Jimin, der seinen Blick nostalgisch über die Szenerie wandern ließ. "Nicht genug.", antwortete Yoongi ohne zu zögern. "Weißt du wie oft wir uns am Wochenende oder an freien Tagen ein Strandhaus gemietet haben?" Jimin atmete tief ein, so wie er es immer getan hatte, wenn er am Strand war. Nur, dass jetzt keine Luft mehr in seine Lunge strömen konnte, weil seine Lunge längst zerfetzt unter der Erde lag. "Nicht genug.", erwiderte Yoongi wieder. Es hätten nie genug sein können. Er hätte nie genug Zeit mit Jimin verbringen können. Ohne richtig darüber nachzudenken ging er an den Punkt, an dem das Wasser den Strand stoßweise streifte, bevor es sich wieder zurückzog. Im äußersten Bereich dieses Spülsaumes, gerade so, dass das Wasser seine Finger nicht erreiche konnte ließ er sie durch den Sand gleiten, er schnitt mit ihnen Kerben in den weichen, körnigen Sand. Die Kerben wurden zu Buchstaben, die Buchstaben zu Wörtern, bis die Wörter einen Satz bildeten. Ich werde dich immer lieben, Jiminie. Ein einziger Satz, der Yoongi die Welt bedeutete, ein einziger Satz, der die makellose Imperfektion des nicht ganz glatten Sandes störte. Ein einziger Satz, der durch eine Welle, deren Größe die der anderen überstieg, einfach fortgespült wurde. "Weißt du was, Jiminie? Vielleicht ist das ganze Leben nur eine Spur im Sand. Sie kommt uns wichtig und unumgänglich vor, bis sie auf einmal weg ist. Durch eine kleine, gar nicht so besondere Anomalie auf einmal ins unleserliche fortgespült, als hätte sie nie existiert. Die Sandspur meine ich. Aber genauso trifft das auch auf das Leben zu. Es wirkt so selbstverständlich, so banal, bis es von jetzt auf gleich zu Ende ist. Man kann es gar nicht so schnell realisieren, wie etwas so naja, so offensichtlich existentes einfach nicht mehr da sein kann, wie es passiert." Yoongi sah zum Horizont und wirkte dieser Welt auf einmal komplett entrückt. Er löste sich aus seiner Trance und zog wieder Spuren in den Sand. Ich werde dich immer lieben, Jiminie. Eine Welle schwemmte die Buchstaben fort. Yoongi schrieb. Die Wellen zerstörten. Und trotzdem schrieb er weiter. Die Wellen stoppten nicht. Yoongi stoppte nicht.
Ein Mann flanierte den Strand entlang, ließ sich die Haare von der salzigen Seeluft aus dem Gesicht wehen. Er beobachte alles ganz genau, jedes noch so kleines Detail taxierte er mit seinem Blick, bis eben dieser an der Gestalt an Wasser hängen blieb. Dieser junge Mann mit den auffallend mintgrünen Haaren, deren Ansatz schwarz wie die Nacht hervorschimmerte, fesselte die Aufmerksamkeit des Beobachters nicht nur durch seine zweifellos bemerkenswerte Erscheinung, der er jedoch zuerst sein Interesse widmete. Eine weite Jogginghose und ein übergroßer Pullover schienen seinen dünnen Körper fast zu verschlucken, die wunderschön geschwungenen Augen sahen verweint aus, die porzellanartige Haut zeigte keine einzige Pore. Er trug keinen Schmuck. Was der Beobachter nicht wusste war, dass Yoongi dennoch ein schweres Armband spürte, obwohl er seit elf Tagen keines mehr trug, sosehr hatte er sich an die schöne Fessel an sein selbst erwähltes Schönheitsideal gewöhnt. Doch selbst ohne dieses Wissen war der Beobachter fasziniert. Fasziniert von der Tätigkeit des Mannes, der immer wieder in den Sand schrieb, seine Spuren hinterließ, auch wenn die Wellen diese kontinuierlich unkenntlich machten. Er zog ein abgegriffenes Notizbuch aus seinem Rucksack, kramte nach einem Stift und schrieb schließlich etwas auf. Der Stift kratzte schnell über die ehemals unberührte Seite und nach und nach entstand das erste Kapitel eines Romans, den Yoongi später lieben würde, unwissend darüber, dass er die Inspiration dafür war.
"Yoongi? Warum machst du das?", fragte Jimin interessiert. Ihn rührte die Geste, dennoch blieb ihm der Sinn dahinter fremd. "Du erinnerst dich noch an die Metapher von eben, oder?" Yoongi sah ihn erwartungsvoll an, als ob der Vergleich des Lebens mit Wörtern im Sand der Schlüssel zu allem war. "Ja.", erwiderte Jimin zögerlich. "Gut. Wenn die Spuren im Sand Leben sind, dann sind die Wellen der Tod. Schere schlägt Papier, Stein schlägt Schere. Tod schlägt Leben, Liebe schlägt Tod." In Yoongis Augen bildeten sich wieder Tränen, fast so salzig wie das Meer, das seine Boten ausschickte um die von Yoongi geschriebenen Worte immer und immer wieder zu überspülen. "Dann würde aber Leben Liebe schlagen.", meinte Jimin und legte seinen Kopf schräg, Verwirrung zeichnete sein verblasstes Gesicht. "Ich gebe zu, das Konzept ist noch nicht so ganz ausgereift."
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Afterwards
Fanfic"Du... du lebst?" "Nein. Ich bin gestorben, aber du bist es nicht." "Noch nicht. Aber ich komme zu dir, Jiminie." "Wenn du jetzt da runterspringst, dann bringe ich dich höchstpersönlich um!" Und so kam es, dass Yoongi mit einem traurigen Lächeln auf...