Engländerin - Tür 22

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Runa wurde von Ivar über das halbe Deck gezogen, bis er schließlich in der hintersten Ecke vor ein paar Fässern stehen blieb.

Fragend starrte Runa ihn an, abwartend warum er sie so plötzlich aus Bjorns Armen gerissen hatte. Gerade wo sie angefangen hatte sich zu entspannen und seine Zuneigung zu genießen.

„Du musst versuchen sie zu retten!" Ivar klang furchtbar aufgeregt und Runa folgte seinem Finger hinter die Fässer.

„Oh mein Gott!" rief sie aus, als sich das volle Ausmaß vor ihren Augen sichtbar machte.

Hinter den Fässern lang eine blonde, zierliche Frau die sich vor Schmerzen krümmte. Ihr Kleid war voller Blut und die Haare hingen ihr fettig auf dem Köpf und ins Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie hatte die Augen fest zusammengekniffen. Damit versuchte sie wohl den Schmerz besser ertragen zu können.

„Was ist ihr passiert?" wollte Runa wissen und ließ sich sofort neben der Frau auf den Boden fallen.

Ivar begann sofort die Geschehnisse zu erzählen. Als er an dem Punkt angekommen war, wo er die glorreiche Idee der Männer mit dem Met ausbreitete, schlug Runa die Hände über dem Kopf zusammen.

„Auf so dumme Ideen können Männer auch nur kommen wenn sie im Rudel sind. Diese arme Frau verliert ihr Kind und der Körper versucht das vermutlich schon tote Baby aus dem Körper zu bekommen, bevor ihr Körper noch vergiftet wird und sie mit ihrem Kind stirbt!" Runa war Ivar einen bösen Blick zu, der sofort den Kopf einzog und den Mund öffnen wollte, um sich zu verteidigen.

„Sag jetzt lieber kein weiteres Wort und hilf mir hier. Ich brauche warmes Wasser und ein paar saubere Tücher!" viel im Runa dazwischen.

„Wird gemacht." Und schon war Ivar verschwunden.

Runa beugte sich derweil zu der fremden Frau hinüber und legte ihre Hände auf den runden Bauch der Frau. Diese riss schockiert die Augen auf und wollte Runa wegstoßen.

„Hallo, ich will dir nichts Böses. Ich bin Runa. Ich will dir helfen." Sprach Runa beruhigend auf sie ein.

Der verwirrte Blick der Frau, zeigte Runa, dass sie wohl kein einziges Wort von ihr verstanden hatte, doch bevor die Engländerin etwas erwidern konnte, verzog sie erneut schmerzhaft das Gesicht und ein leises stöhnen kam über ihre Lippen.

Runa legte ihre Hände zurück auf den Bauch der Frau. Als sie damit fertig war ihn abzutasten, kam auch schon Ivar mit den gewünschten Sachen zurück.

„Gut, mach eines der Tücher nass und gib es mir." Sagte die Wikingerin und drehte sich zu ihm um. „ Und sorg dafür, dass die Zuschauer verschwinden!" sie warf einen wütenden Blick in die Runde der Männer, die sich um sie versammelt hatten.

„Ihr habt sie gehört! Habt ihr nichts zu tun!" blaffte diesmal Bjorn los und die Männer machten sich schleunigst aus dem Staub.

„So wie ich das sehe, ist sie noch nicht weiter als bei der Hälfte der Schwangerschaft. Ihr Bauch ist nicht sonderlich groß und auch das Baby ist nicht sehr weit gewachsen." Runa griff nach dem nassen Tuch und säuberte erstmal das Gesicht der fremden Frau.

„Kann ich sonst etwas machen?" fragt Ivar, der hilflos von einem auf das andere Bein trat.

„Etwas Schutz vor den Blicken der Männer wäre gut. Das wird nicht besonders schön werden." War Runas letzte Anweisung an Ivar, bevor sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Frau schenkte.

Ivar tat wie ihm befohlen. Er schichtete die Fässer und Kisten so auf, dass man nur noch schwer einen Blick auf die Beiden Frauen erhaschen konnte. Zufrieden wollte er sich umdrehen, um zu seinem Bruder und seinem Vater zu gehen, allerdings hielt ihn irgendetwas an Ort und Stelle. Er wollte die fremde Frau nicht alleine lassen. Und so ließ er sich mit dem Rücken an einem der größeren Fässer zu Boden gleiten und wartete.

Runa währenddessen hatte begonnen, den Rock der Engländerin nach oben zu schieben, um einen Blick zwischen ihre Beine werfen zu können. Gleichzeitig drückte sie mit ihren Fingern auf den Unterleib der Frau. Sie wollte herausfinden, wie weit der Körper des Säuglings im Bauch schon nach unten gerutscht war. Runa war noch nie bei einer Geburt dabei. Aber sie hatte einmal mit Sigi über diese gesprochen. Ein wenig davon ist ihr noch im Gedächtnis geblieben.

Und so begann sie, der Engländerin dabei zu helfen, das vermutlich tote Kind auf die Welt zu bringen. Immer und immer wieder redete sie beruhigend auf die Frau ein, die mittlerweile wohl begriffen hatte, dass die Wikingerin ihn helfen wollte.

Die Abstände zwischen den schmerzvollen Wehen wurden immer kürzer und die junge Frau schrie jetzt immer öfter und lauter unter den Schmerzen. Sie lag nun bereits seit einiger Zeit auf dem Rücken, die Füße angewinkelt und aufgestellt. Runa saß dazwischen und streckte ihren Kopf immer wieder hervor, um der jungen Engländerin Mut zuzusprechen.

Es vergingen Stunden, bevor die Schreie der englischen Frau aufhören und einem bitterlichen Weinen wichen. Runa kam erschöpft hinter den Fässern hervor. Sofort erhob sich Ivar vom Boden und erhielt einen verwunderten Blick von Runa, den er allerdings ignorierte.

„Wie geht es ihr?" wollte er wissen.

„Ihrem Körper ganz gut, sie wird es überleben. Das Kind ist leider nicht am Leben. Ich werde sie jetzt ein bisschen in Ruhe lassen. Aber du kannst gerne zu ihr gehen." Antworte Runa und Ivar ging an ihr vorbei zu der Frau die ihr totes Baby in den Armen hielt und weinte.

Das Kind war nicht einmal halb so groß wie normale Säuglinge. Es reichte geradeso um Runas Handfläche auszufüllen. Selbst wenn es die Geburt überlebt hätte oder die Tritte des Prinzen, hätte es hier keine Überlebenschance gehabt.

Runa eilte über die Planken des Langbootes und suchte sich eine Stelle um sich zu waschen. Auch sie selbst war voller Blut. Als sie damit fertig war und sie aufrichtete, konnte sie zwei starke Arme spüren, die sie an eine harte Brust zogen.

Im Auge des Wikingers - Bjorn EiriksonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt