Kapitel 4

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Ich stöhnte vor Schmerzen auf. Schwebe ich? Das muss der Himmel sein. Aber wieso tut es dann so weh? Ich riss meine Augen auf und blickte in ein Blätterdach über mir. Ich lebe! Aber wie kann das möglich sein? Gleich darauf realisierte ich, dass ich nicht schwebte, sondern von zwei Händen getragen wurde. Mein Mund war staubtrocken. Ich wollte sprechen doch ich konnte nicht. Bei jedem Atemzug fühlte es sich an, als würden hunderte von Messern auf mich einstechen. Verzweifelt schnappte ich nach Luft. Die Person, welche mich trug hatte anscheinend nicht mitbekommen, dass ich wieder bei Bewusstsein war. Meine Augen offen zu halten, war zu anstrengend, deshalb schloss ich sie wieder. Ich sah den ganzen Absturz noch einmal vor meinem inneren Auge. Es war schrecklich.

Am liebsten hätte ich wieder geschrien, aber ich konnte mich nicht einmal bewegen. Mein Körper war einfach zu schwach.

Ich spürte, wie sich die Person bückte und mich langsam auf den Boden legte. Dann hörte ich nur noch die Schritte, als sie sich von mir immer weiter weg bewegte. Ich schaffte es nicht, ich konnte mich nicht bei Bewusstsein halten und so fiel ich in einen traumlosen Schlaf.

Das erste was ich realisierte als ich aufwachte war, ich konnte meine Hand bewegen. Sie glitt schnell zu der Stelle hinab, von der aus mein ganzer Körper mit Schmerzen durchflutet wurde, zu meinem Bauch. Meine Finger berührten etwas Warmes, Glitschiges. Sie zuckten zurück. Ich wusste sofort, dass es Blut war, viel Blut. Als ich mich wieder gefangen hatte tastete ich weiter. Meine Finger berührten einen etwa zehn Zentimeter langen Schnitt aus dem etwas herausragte. Es war scharfkantig. Ich begann daran zu ziehen. Ein großer Fehler. Ich hatte in meinem ganzen bisherigen Leben noch nie einen so schlimmen Schmerz gespürt. Aus meinem tiefsten Inneren kam ein fast unmenschlicher Schrei. Mein Körper krümmte sich zusammen. Sofort ließ ich das Ding los. Wieder hörte ich Schritte. Sie kamen auf mich zugelaufen. Auf einmal warf sich eine Gestalt vor mir auf die Knie und ich konnte in die blauen Augen eines jungen Mannes blicken. „Bitte…Hilf mir!“, brachte ich stockend hervor. Mit einer Hand zeigte ich auf meinen Bauch. Ich begann erbärmlich zu zittern. Er legte sanft seine Hand auf meinen Arm und erwiderte: „Ganz ruhig.“ Ich biss meine Zähne zusammen um mich auf den Schmerz vorzubereiten. Dann zog er mein T-Shirt hoch. Er verharrte kurz. Ich konnte ihn schwer schlucken hören. Schnell fuhr er mit seinen Fingern in meine Wunde und holte das etwas, das in mir steckte hinaus. Ich schrie so laut ich konnte und hörte erst wieder auf als ich keine Luft mehr hatte. Schweiß lief mir die Stirn herab. Ich konnte sehen, dass er eine Glasscherbe in der Hand hielt und seine Finger blutig waren. Mein Blut! „Es…Es tut so weh!“, brachte ich hervor. Er nickte. „Du musst deine Hand ganz fest draufpressen!“ Mit diesen Worten verschwand der Fremde.

Ich weiß nicht mehr wie lange ich so dalag, meine Hand fest auf meine Wunde drückte und die im Wind schaukelnden Blätter der Bäume ober mir beobachtete. Zum ersten Mal begann ich nachzudenken. Wo sind wir? Wo sind alle anderen? Geht es Olivia gut? Doch ich wusste keine Antworten auf meine Fragen. Aber ich hatte schlimme Befürchtungen.

Nach einer halben Ewigkeit beschloss ich, mich aufzusetzen. Dafür brauchte ich meine beiden Hände, so musste ich kurz eine Wunde loslassen. Schmerzen durchzuckten wieder meinen Körper, aber ich schaffte es irgendwie mich aufzusetzen und zu einem Baum hinter mir zu robben. Erschöpft lehnte ich mich an ihn und drückte meine Hand wieder auf die Wunde. Am liebsten hätte ich sie untersucht, aber ich hatte Angst vor dem, was ich erblicken würde.

Erst jetzt bemerkte ich, flüsternde Stimmen und sah in einigen Metern Entfernung Menschen am Boden liegen oder Sitzen. Wie viele es waren, konnte ich noch nicht genau sagen. Manche waren bei Bewusstsein, andere lagen wie tot da. Aber überall war der Boden mit Blut übersäht. Bei dem Anblick wurde mir schlecht. Meine Augen suchten nach einem bekannten Gesicht, doch ich konnte keines erkennen. Sicher ist Olivia mit den anderen woanders und sucht mich schon!  Dann sah ich ihn. Den fremden jungen Mann, der mir geholfen hatte. Er saß ungefähr 20 Meter entfernt neben einem kleinen Jungen. Ich muss ihn fragen wo Olivia ist. Hastig versuchte ich aufzustehen, was meiner Wunde ganz und gar nicht gut tat, aber ich musste die Wahrheit erfahren, egal wie schmerzhaft sie auch sein mochte.

Ich kam nicht schnell voran, aber schaffte es irgendwie einigermaßen, den Umständen entsprechend,  normal zu gehen. Mit einer Hand drückte ich weiterhin fest auf meine Wunde und mit der anderen, versuchte ich mein Gleichgewicht zu halten. Kurz bevor ich ihn erreicht hatte, hielt ich es nicht mehr aus und begann zu schreien: „Wo ist Olivia? Wo ist meine Klasse?“ Ich musste laut aufschluchzen. Eigentlich wusste ich die Antwort schon, aber wollte sie nicht wahrhaben. Ich sackte auf die Knie und musste mich übergeben. Der kleine Junge sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre ich ein wildes Tier, doch der Fremde kam zu mir und legte seine Arme auf meine Schultern. „Hör zu, wir alle müssen jetzt ganz stark sein und wenn Olivia nicht hier ist, dann…!“ „Neiiiiiiiin!“, kreischte ich.  „Das hier sind alle Überlebenden.“, beendete er seinen Satz. Mir liefen Tränen die Wangen herab. Das darf nicht wahr sein! Er sah mich mit seinen blauen Augen traurig an. Es fühlte sich an, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Wahrscheinlich wäre ich einfach umgekippt, hätte er mich nicht fest an sich gedrückt. Meine Finger krallten sich in seinen Rücken und meine Tränen tropften auf sein T-Shirt. Ich saß eine Weile in den Armen eines fremden jungen Mannes und verstand die Welt nicht mehr.

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