Kapitel 34

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Was ist das Leben hier draußen noch Wert? Einen Dreck. Was geht in diesen Menschen vor? Die Verrückten, welche uns verfolgen. Warum tun sie das? Warum sind wir hier? Sollte es so kommen? Vielleicht war es schon von dem Tag, an dem ich geboren wurde, bestimmt hier zu landen. Diese Fragen kann mir leider niemand beantworten, nicht einmal Nick.

Mir dröhnte der Kopf. Das viele Nachdenken über unsere Existenz, tat mir anscheinend nicht gut. Ich spürte, wie mir mein Leben Stück für Stück ausgehaucht wurde. Wieso kann das Leben nicht mit einem Schlag aus sein? Stattdessen sterben wir langsam. Ich beobachtete Nick von der Seite. Er starrte stumm geradeaus, seine Augen hatten den Glanz verloren, welchen ich am Anfang bewundert hatte. Sein Gesicht war mit Schnitten und Blutergüssen übersäht. Ich sehe wahrscheinlich auch nicht besser aus. Sein rechtes Auge war ganz zugeschwollen. Er tat mir leid, ich tat mir leid. Mein Körper war auch, über und über mit Wunden übersäht. Manche waren nur leicht und manche tief. Die meisten waren entzündet, da wir keine Medikamente hatten. Bei jedem Schritt musste ich meine Beine dazu zwingen, weiterzugehen. Es tat so weh, aber am meisten schmerzte mein Herz. Es blutete. Früher hatte ich schon immer zum Weinen begonnen, wenn ich nur hingefallen war und mir das Knie aufgeschlagen hatte. Meiner Meinung nach ändern sich die Zeiten, aber dafür kamen andere Schmerzen dazu, nicht nur körperliche, sondern auch seelische. Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst, gefangen in einer Welt, in die ich nie hinein wollte. Damit musste ich irgendwie zurechtkommen. Schnell befahl ich meinen Gedanken, mich in Ruhe zu lassen. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, versuchte ich, ein neues Gesprächsthema mit Nick zu finden.

„In Chicago warst du doch sicher der Mädchenheld oder?“ Nick schien zuerst ein bisschen verwirrt zu sein und überlegte sich, was er sagen sollte: „Wie meinst du das?“ „Dir müssen die Mädchen doch sicher zu Füßen gelegen haben…“ „Ich will ehrlich sein, meine ganzen bisherigen Freundinnen waren nichts ernstes, für mich jedenfalls nicht.“ „Gib es zu, dir hat das doch sicher gefallen.“ „Ich rede nicht gerne über meine Vergangenheit. Ich habe damals viele Fehler gemacht, die ich heute bereue. Ich hätte jede haben können, aber sie wollten doch nur mit mir zusammen sein, damit sie angesehen werden und sagen können, seht alle her, dieser Typ ist mein Freund. Dieses ganze Getue hat mich angekotzt, es hat sich doch niemand um meinen Charakter und um meine Gefühle geschert. Ich war wie ein Spielzeug für die Mädchen.“ Nicks Antwort überraschte mich sehr, ich wusste nicht, dass er so dachte. „Und was ist an mir anders?“ „Du bist nicht zu vergleichen mit diesen oberflächlichen Mädchen da draußen. Uns verbindet mehr. Weißt du was ich nie zu einem der Mädchen gesagt habe?“ „Was?“ „Ich liebe dich. Du bist die erste. Du bist die erste, bei der ich sage, mit dir will ich den Rest meines Lebens verbringen…“ Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, ich war so gerührt. „Hier beginnt man über unwichtige Sachen nachzudenken.“ „Nein, du bist keine unwichtige Sache! Aber erzähl doch mal was über dich!“ „Und was?“ „Wie wär’s mit Geheimnissen, Sachen die du noch nie jemanden erzählt hast.“ „Gut, wir machen ein Spiel daraus!“ In der Anwesenheit von Nick, fühlte ich mich ganz anders als sonst, so unbeschwert. Wenn wir über normale Sachen sprachen, war es, als würde der Dschungel um uns herum gar nicht existieren. Irgendwie wusste, ich gar nicht, was ich ihm erzählen sollte, mein Leben war nicht spannend, nicht voller Geheimnisse, wie er vielleicht annahm. „Erzähl, ich weiß, dass du Geheimnisse hast, Ally!“ Er erinnerte mich gerade sehr an meinen Bruder. Mein Bruder war ganz anders als ich. Er hat immer die Regeln gebrochen und unsere Eltern auf die Palme gebracht. Ich dagegen, war immer brav und habe viel für die Schule gelernt. Und was brachte mir das jetzt? Nick lächelte und schüttelte den Kopf: „Ein Mädchen wie du ohne Geheimnisse…“ „Was soll das jetzt heißen?“, ich sah ihn verwirrt an. „Tut mir leid, dass ich immer das brave Mädchen war!“ „Ich wette du warst gar nicht so brav.“

Ich spürte, wie meine Beine langsam aber sicher, müde wurden. Nick seufzte deutlich auf. „Komm, wir setzten uns kurz hin.“, meinte er. Wir ließen uns auf dem weichen Boden nieder. Mir war nach Heulen zumute. Nick legte seinen Arm um mich und zog mich an seinen Körper. Er gab mir einen Kuss und ich lehnte mich gegen ihn. Nick begann mir über den Bauch zu streichen. Die Stelle, an der der Glassplitter gesteckt hatte, tat noch immer weh. Angespannt atmete ich aus. „Wie geht es deinem Gesicht?“ „Ach, nicht so schlimm. Jedenfalls nicht schlimmer als ich es schon hatte.“ „Hast du dich früher mit anderen oft geprügelt?“ „Oft kann man nicht sagen, aber ja es kam schon mal vor. Einmal ging es um ein Mädchen.“ Ich mochte Nicks Art, die Art wie er Mädchen beschützte. Jede hätte sich glücklich geschätzt, jemanden wie ihn zu haben. Ich kann nicht glauben, dass die Mädchen ihn ausgenutzt haben… Plötzlich stand er auf und ließ mich sitzend am Boden zurück. „Was machst du?“ „Ich halte das nicht mehr aus, nicht zu wissen, wohin wir gehen. Ich werde jetzt auf diesen Baum klettern und hoffen, irgendetwas zu entdecken!“ „Ok, aber Nick…“, ich griff nach seiner Hand und unsere Finger verschränkten sich ineinander. „Ja?“ „Pass auf dich auf. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert!“ Nick lächelte mir aufmunternd zu. Dann begann er einen geeigneten Baum, mit vielen Ästen zu finden. Ein paar Meter weiter inspizierte er einen Baum und testete die Äste, ob sie stabil genug waren. Anscheinend war er geeignet, denn anschließend stemmte sich mein Freund  mit seinen Händen hoch und schwang sich hinauf. Von meinem Blickwinkel konnte ich nur noch seine Füße ausmachen, sein Kopf und Oberkörper wurden schon von Blättern verdeckt. Bitte, komm wieder heil hinunter. Äste knackten und Blätter raschelten. „Siehst du etwas?“, rief ich schon nach kurzer Zeit. „Warte, ich bin noch nicht ganz oben.“ Danach folgte wieder Stille und ich machte mir Sorgen. „Nick? Soll ich zu dir raufkommen?“ „Nein, du ruhst dich schön aus…Oh mein Gott!“ „Was? Was ist?“ Er antwortete mir nicht. Alarmiert sprang ich auf und ging zu dem Baum. Außer Gestrüpp konnte ich nichts sehen, nicht einmal irgendetwas von meinem Freund.  „Was hast du Nick? Rede mit mir!“ 

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