Kapitel 27

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Ich fragte mich, warum er es mir nicht schon früher gesagt hatte. Ich meine, nicht, dass wir nicht schon genug Probleme hatten, aber trotzdem. Sprachlos saß ich da und starrte Nick an, wie er noch immer gekrümmt am Boden lag. Er tat mir unendlich leid. Seine Haare standen wild durcheinander und ich konnte mich nicht zurückhalten, mit meiner Hand durchzufahren. Seine dunkelblonden Haare waren ganz verfilzt, aber ich mochte sie trotzdem. Zwei blaue Augen blitzten auf und sahen mich an. Er lächelte mich mit so einem Lächeln an, bei dem jedes Mädchen dahingeschmolzen wäre. In gewisser Weise tat ich das ja auch. Ich bewunderte Nick dafür, dass er trotz all den Schmerzen sein Lächeln nicht verloren hatte. Dieser Moment wäre fast romantisch gewesen, fast, denn er hatte einen kleinen Schönheitsfehler. Wir lagen erschöpft und ohne Kräften am Rande eines Flusses und hatten keine Ahnung wie es weiter gehen soll. Diesmal war ich diejenige, welche eine Entscheidung treffen musste. Deshalb beschloss ich, die Nacht hier zu verbringen.

Ich füllte den Beutel mit Wasser auf und gab Nick zu trinken. Danach aßen wir ein bisschen von dem getrockneten Fleisch. Er meinte zwar immer, er hätte keinen Hunger, aber ich stopfte es ihm trotzdem hinein. Es waren zwar noch ein paar Stunden bis Sonnenuntergang, dennoch kuschelte ich mich an Nick und versuchte zu schlafen. Wir brauchten unsere Kräfte. Ich spürte wie er schwer atmete, das machte mir Angst. Aus seinen Augenwinkeln liefen Tränen. Nun konnte ich mich auch nicht mehr zurückhalten und begann zu weinen. Ich wollte nicht aufschluchzen, doch ich konnte es nicht beeinflussen. Nick zog mich fester an sich. Solche Momente gab es schon oft in meinem Leben, aber diesmal war es etwas Anderes, als ich mich in den Schlaf weinte.

Es war mitten in der Nacht. Ich schrak auf. Irgendein Geräusch hatte mich geweckt. Ich lauschte, doch ich konnte außer dem Atmen von Nick und dem Rauschen des Flusses nichts vernehmen. Ein ungutes Gefühl schlich sich in mein Inneres und ich beschloss meinen Freund aufzuwecken. Ich rüttelte an seiner Schulter: „Nick! Wach auf!“ Er rührte sich nicht und schlief tief und fest weiter. Du darfst keine Angst haben! Ich stemmte mich hoch, um einen besseren Überblick zu bekommen. Doch außer den Umrissen der Bäume konnte ich nichts erkennen. Das war bestimmt nur ein Tier. Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, als ich bemerkte, dass ich eigentlich schrecklichen Durst hatte. Meine Finger begannen nah dem Beutel zu greifen, doch sie ertasteten nur Laub und Erde. Wo ist der verdammte Beutel? Ich tastete mich weiter voran. Plötzlich fiel mir ein, dass wir ihn am Rand des Flusses liegen gelassen haben, während wir wieder Schutz unter den Bäumen gefunden hatten. Ich stand wieder auf und humpelte in die Richtung, in der ich den Fluss vermutete. Schon sah ich das glitzernde Wasser vor mir. Endlich ertasteten meine Hände das Gefäß. Zum Glück war noch Wasser drinnen, das konnte ich anhand des Gewichts ausmachen. Gleich würde mein Durst gestillt sein. Ich öffnete den Verschluss und führte ihn zu meinem Mund. Dann nahm ich einen so großen Schluck, sodass mir das Wasser sogar an meinem Hals hinablief.

In dem Moment, als die Flüssigkeit meine Zunge erreichte, wusste ich sofort, dass es kein Wasser war. Die zähflüssige Konsistenz lief an meinem Hals herab. Sie schmeckte komisch und war warm. Mit einem Entsetztem Aufschrei begann ich zu husten und spuckte alles aus meinem Mund aus. Ich begann zu würgen und noch immer klebte es zwischen meinen Zähnen. „Nick! Nick!“, kreischte ich. Ich konnte sehen wie er sich bewegte und als er realisierte, dass es kein Traum war, sprang er alarmiert auf und drehte sich im Kreis um mich zu finden. Als ich endlich in seinem Blickfeld auftauchte, lief er mit wackeligen Beinen auf mich zu. „Sie wollen uns von innen heraus zerstören!“, rief ich. „Was? Wer? Von was redest du?“ Er warf sich vor mir auf den Boden und zuckte augenblicklich zurück. „Was ist das?“ „Blut!“, schluchzte ich. Er drückte mich zu Boden und begann meinen Körper abzutasten. „Wo? Wer war das?“ „Es ist nicht mein Blut, Nick!“ Verwirrt ließ er mich los und wich zurück. „Von wem dann?“ „Ich weiß nicht! Ich wollte was trinken und statt Wasser war Blut in dem Beutel!“ „Aber wie ist das möglich?“ „Es muss jemand hier gewesen sein. Mich hat ein Geräusch aufgeweckt.“ Er versuchte, das klebrige Zeug von seinen Fingern zu bekommen: „Es ist noch warm!“ „Ich weiß…“ „Das heißt sie haben vor kurzem jemanden umgebracht!“ „Merkst du es nicht, Nick? Sie spielen mit uns. Sie wollen uns selbst verrückt machen, damit wir uns gegenseitig umbringen!“ Nick war sprachlos und stotterte. Ich spürte wie meine Haut langsam an den Stellen, welche mit Blut bedeckt waren, zu spannen begann. Vergebens versuchte ich es wegzuwischen.

„Bist du dir sicher, dass du nicht verletzt bist?“ „Ja, wie gesagt, das Blut war in unserem Beutel.“ Er schien nachzudenken. „Ich kann hier nicht mehr weiterschlafen, wenn ich weiß, dass die Verrückten ganz in unserer Nähe sind!“, meinte ich. „Ich auch nicht. Ich meine, wenn du ein paar Minuten früher aufgewacht wärst, hätten sie dir wahrscheinlich viel Schlimmeres angetan. Ally, ich bin so froh, dass dir nicht mehr passiert ist!“ Ich auch. Und ich bin froh, dass du auch noch lebst!  „Bleib bei mir, Nick!“ „Keine Sorge, ich lass dich nicht allein.“

So saßen wir nur da und warteten bis die Sonne aufgehen würde. Mein Kopf lag angelehnt an seiner starken Schulter. Sie war nicht mehr so stark wie am Anfang, man merkte, dass der Dschungel auch von ihm einiges abverlangte. Ich weiß nicht wie lange wir dasaßen und warteten bis es dämmerte. Jedenfalls blickten irgendwann die Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen hervor. Fast wäre ich wieder eingenickt, doch ich schaffte es mich wachzuhalten. Dann sahen wir erst das Ausmaß der letzten Nacht. Nicks Hose war blutverschmiert, da er sich vor mir genau in das Blut hineingesetzt hatte und mein Mund, sowie mein Hals wiesen lauter Blutspuren auf. So viel Blut. Der ganze Boden war mit der roten Flüssigkeit bedeckt. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran dachte, dass jemand in der Nacht, während wir geschlafen haben, hier war. 

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