19. Kapitel

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Das Mädchen steht an einer Klippe. Der Wind spielt mit ihren Haaren und droht sie aufs Meer hinaus zu wehen. Doch sie ist nicht mehr das kleine Mädchen, dass dies mit sich machen lassen würde. Das Mädchen ist jetzt eine junge Frau.

Sie steht dort auf der Klippe und denkt über ihr Leben nach. Denn dieses ist vollkommen aus den Fugen geraten. Einen Moment war sie nur glücklich, aber jetzt ist alles anders. Unter ihr brechen die Wellen am Fels. Sie brechen, wie die Frau nie gebrochen werden wollte. Aber hat sie das geschafft? Langezeit war sie mit dem Jungen glücklich. Sie liebten sich und sie liebten sich noch immer. Aber es gab Dinge, die konnte selbst Liebe nicht überwinden. Den Riss in der Gesellschaft zum Beispiel oder den ewigen Konflikt zwischen ihrem Herz und ihrem Gewissen. Sie war Glücklich in ihrer Beziehung und doch hat es sie innerlich zerstört. Es hätte sie fast gebrochen, wie der Felsen die Wellen bricht. Die schäumende Gischt ist ihr Fremd. Sie ist nicht auf der Insel, die sie Langezeit ihr Zuhause nannte. Der Mann, den sie ihren Vater nannte, ist tot. Er ist tot und wollte sie zu seiner Erbin machen. Aber sie konnte nicht. Sie war geschwächt von ihrer Beziehung und von der Trennung. Denn diese lag noch nicht sehr lange zurück und schon musste sie die Vaterfigur in ihrem Leben auf dem Sterbebett besuchen. Eine Turbulente Zeit, zumal sie so selten an dem Ort war, an dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Dann war er tot und die ganzen Gefühle, die sie gerade in den Griff bekommen hatte, waren auch wieder da. Von einem Tag auf den Anderen hatte sich alles erneut geändert. Sie hatte die Trauerfeier organisiert, zu den Leuten gesprochen. Sie hatte allen Trost gespendet, ohne selbst einen zu haben. Sie hatte gegeben ohne etwas von anderen zu nehmen. Ihr wurde bewusst, dass sie das nicht schaffen konnte.

Der Wind frischt noch einmal auf. Sie droht tatsächlich von der Klippe zu fallen und doch tut sie es nicht. Sie fällt nicht, denn noch ist ihr Leben nicht vorbei. Auch wenn sie selten so nahe dran war.
Nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie das nicht machen konnte. Auch wenn es verdammt feige war. Sie wollte gehen, denn sonst hätte die Veranstaltung das Geschafft, was der Junge nicht geschafft hatte. Sie kam sich alleine und gefangen vor. Gefangen an einem Ort, den sie nicht mehr als Zuhause betrachtete. Dem Verstorbenen zu liebe versuchte sie trotzdem weiter zu machen. Sie lächelte Tagsüber und weinte nachts. Sie versuchte etwas zu verändern und scheiterte immer wieder. Dann stand sie auf und machte weiter, aber die Leute, die sie wirklich verstanden waren Kilometer weit weg. Eines Abends wurde ihr die Entscheidung dann abgenommen.

Eine Träne rollt über ihr Gesicht und ihre Finger gleiten zu der Wunde. Sie wird irgendwann verheilen und eine Narbe bilden. Irgendwann wird es aufhören so zu schmerzen, dass ihr manchmal die Luft weg bleibt. Doch das wird noch dauern und auch ihre Seele hat aus dieser Nacht wunden getragen. Sie hat Wunden getragen, die vielleicht vernarben aber nie ganz verheilen werden. Während sie so dasteht wird ihr bewusst, dass von dem Mädchen nicht mehr so viel übrig ist. Sie hat sich sehr verändert. Von einem glücklichen Kind zu einer gebrochenen Erwachsenen. Es hat nicht in den Ereignissen an jenem Abend den Ursprung. Die Ereignisse waren nur der letzte Streich, der letzte Schnitt, an dem alles letztendlich zerbrochen ist.
Sie hatte sich wieder einmal überlegt zu gehen. Dazu war sie auf die Lichtung gekommen, die ihr so oft Trost gespendet hatte. Doch an diesem Tag sollte sie keinen Trost finden. Stattdessen fand sie einen Mann. Jemand, den sie früher als ihren Bruder oder ihren Freund bezeichnet hätte. Jemand, der sie nicht mehr verstand und den sie nicht mehr verstand. Das hatte sie längst akzeptiert. Dieser Tag sollte ihr Bild jedoch noch einmal verändern. Er lächelte, als er sie sah. „Du kommst immer noch hier her." Alles an ihm widerte sie an. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Darin hatte sie inzwischen Übung. „Du nicht." Erklärte sie nur. Kurz und abweisend. Noch war der Bach zwischen ihnen. Aber er kam immer weiter auf sie zu. Als er am Bach angekommen war, blieb er stehen. Er musterte sie lange und mit wehmütigem Blick. Sie tat es ihm gleich, denn sie wollte vor ihm keine Schwäche zeigen. Trotzdem wäre sie am liebsten zurückgewichen. „Du wolltest es so." Sagte er. Etwas blitzte rot in der Untergehenden Sonne auf. Ihr Instinkt erkannte es, bevor es ihr Kopf erkannte. Doch sie blieb stehen. „Was hast du vor?" Fragte sie mit kalter Stimme, aber man hörte die Panik doch heraus. Der Mann lachte. „Ich werde es zu Ende bringen." Er war nun über den Bach und direkt vor ihr. Das Messer blitzte und dann zog es sich über ihre Haut. Zuerst noch kein lebensgefährlicher Schnitt. Seine Arroganz war ihre Rettung. Das, was sie in all den Jahren gelernt hatte, kam ihr nun zu Gute. Sie stieß ihn weg und er taumelte, überrascht von ihrer Kraft, zurück. Dann rannte sie und ihr war es egal ob das jetzt stark oder schwach war. Sie rannte einfach immer weiter und immer weiter. Ihre Finger fanden die kleine Flöte und sie spielte die Melodie ohne darauf zu achten. Hinter ihr hörte sie ihren Verfolger schnaufen. Noch immer konnte sie nicht akzeptieren, dass er gerade versucht hatte sie umzubringen. Im nächsten Moment war sie an der Klippe. Sie hörte das triumphierte Keuchen ihres Verfolgers und rannte schnaufend weiter. Den Sprung über die Klippe bekam sie selbst schon fast nicht mehr mit. Dann landete sie auf dem Rücken des Drachen. Ein ruhiger Gesichtsausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Das Gehetzte verschwand vollkommen. Der Mann war auf der Klippe stehen geblieben und starrte sie mit großen Augen an. Er würde sie sicher zur Verräterin erklären, weshalb sie nie wieder zurück konnte. Sie ging, ohne sich noch einmal umzudrehen und die Wunde an ihrem Hals blutete und schmerzte.

Jetzt ist die Wunde fachmännisch versorgt und doch kann sie nicht hier bleiben. Während sie auf der Klippe steht weiß sie bereits, dass sie nach Osten gehen wird. Dorthin wird man sie nicht verfolgen. Sie geht und lässt doch einen kleinen Teil von sich zurück. Weiterhin wird sie stark sein. Aber alles Folgende war eigentlich an diesem Tag bereits besiegelt. Bis zu ihrem eigenen Ende.

Fünf Jahre - Was davon bleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt