18. Kapitel

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Astrid

Hicks bricht ab und schaut wieder in die Runde. Der Blick von den Zwillingen sagt so ungefähr: „Das ist nicht dein Ernst." Fischbein schlägt seine Finger gegeneinander und Rotzbacke hat beschlossen das jetzt nur noch Essen helfen kann. Das muss wohl irgendwann inzwischen gekommen sein. Unterbewusst habe ich meine Hand mit der von Hicks verschränkt. Er lächelt mir zu bevor er das Heft zuklappt und die letzte Seite aufschlägt. „Soll ich lesen?" Fragt er in die Runde. Eine gewisse Spannung liegt nun in der Luft. Sie bringt Rotzbacke dazu doch mit dem Essen aufzuhören. Er nickt. Hicks schaut alle nach einander an und alle nicken nacheinander. Lana stehen schon wieder Tränen in den Augen. Ebenso wie Raffnuss und ihrem Bruder. Den Grund dafür kennen wirklich nur die Götter. Die Anderen sehen zumindest etwas gefasster aus und in Viggos Augen sehe ich immer noch dieses wissbegierige Viertel. Hicks räuspert sich noch einmal und lässt seinen Blick ein letztes Mal über den kompletten Raum schweifen, wo die Wikinger wieder zu ihrem Alltag zurückgekehrt sind. Dann beginnt er zu lesen: „Tag 801
Es ist entschieden. Ich bin schwanger und das sicher nicht von Drago. Noch schwieriger kann meine Situation eigentlich nicht mehr werden. Die Krieger des Forseti werden uns noch heute von hier fortbringen. Ich gehe in der Hoffnung meinem Kind ein besseres Leben zu ermöglichen. Eine Zukunft die besser ist als das was mich erwartet. Irgendwie habe ich Angst vor der Zukunft und gleichzeitig freue ich mich darauf. Es kann nur besser werden.
Deine Eva."

Hicks schlägt das Heft zu und legt es zurück auf den Tisch. Seine Hände zittern und sein Gesicht ist bleich. Ich denke wir denken in diesem Moment alle das Selbe: „Das verändert alles." Flüstert Hicks. So leise, dass ich es wahrscheinlich niemand außer mir gehört hat. Dann springt Lana auf. „Ich muss hier raus!" ruft sie und stürmt aus dem Raum. Das alles kann nicht länger als eine Viertelstunde gedauert haben. Es kommt mir sehr viel länger vor. Ich bekomme am Rand mit, wie Viggo uns einen entschuldigenden Blick zuwirft. Dann folgt er dem Mädchen aus dem Raum. Hicks seufzt und stützt seinen Kopf auf den Händen ab. Dann schaut er auf. „Ich denke wir sollten weiter." Meint er und alle anderen nicken. Wie auf Kommando hebt auch Ohnezahn seinen Kopf wieder und steht auf. Hicks kramt in seiner Tasche und legt ein paar Münzen auf den Tisch. Wir folgen ihm stumm aus dem Gasthaus und verbringen eine weitere halbe Ewigkeit damit Lana und Viggo wieder zu finden.

Schließlich ist es Lyra, die uns auf die richtige Spur bringt. Ihre leicht rötlichen Schuppen blitzen zwischen den Bäumen auf und führen uns so zu den beiden Wikingern. Sie sitzen sich gegenüber auf dem sandigen Boden, schauen sich aber nicht an oder auf, als wir zwischen die Bäume treten. Beide scheinen sie in Gedanken versunken zu sein und das so einvernehmlich, wie ich es mir vor Kurzem noch nicht hätte vorstellen können. So bleibt es eine Weile. Viggo und Lana sitzen einfach nur da, während wir zwischen den Bäumen stehen und nicht wissen, was wir tun sollen.
Irgendwann stößt Lyra einen schmerzerfüllten Laut aus. Er geht mir durch Mark und Bein und ich beginne zu Zittern. Nur am Rande bekomme ich mit, wie Hick einen Arm um mich legt. Dieses Band zwischen uns ist zum Teil Lydias Verdienst. Wäre sie nicht zu uns gekommen, wäre alles anders verlaufen und doch würden wir irgendwann an dieser Stelle stehen. Die Frage wäre nur, ob wir Freunde oder Feinde wären und wen das Leben uns dann genommen hätte. Ich schaue Hicks in die Augen und sehe, dass er fast dasselbe wie ich denkt. Alles ist irgendwie gut geworden und es gibt keine Entscheidung, die wir wirklich bereuen sollten. Denn etwas tief in mir sagt, dass es sonst nur ein anderes Opfer gegeben hätte, vielleicht sogar mehr als das. Es ist Viggo, der schließlich das Wort ergreift: „Falsche Schlussfolgerungen waren schon immer gefährlich." Sagt er und es klingt einerseits interessiert, andererseits so, als müsste er sich dazu durchringen diesen Satz zu sagen. Einen Moment später steht Lana ruckartig auf und klopft sich den Staub von ihrem Rock. „Ihr wolltet doch die Welt hinter dem Liliengebirge kennenlernen?" Fragt sie und wir nicken perplex. „Dann ist jetzt eine gute Zeit dafür." Während wir noch immer nicht wissen, wie uns geschieht, stößt sie einen schrillen Pfiff aus. Kurz darauf kommt ein Drache angeflogen und landet elegant vor ihr. Es ist ein tödlicher Nadder, der aber allein vom Aussehen her ganz anders als mein Mädchen ist. Dieses folgt ihm aber und auch die anderen Drachen sind kurz darauf auf der Lichtung gelandet. Lana sitzt zu diesem Zeitpunkt schon im Sattel und schaut uns erwartungsvoll an. In ihrem Blick erkenne ich noch die Trauer und die Erschütterung. Aber auch die Art, wie sie sich an den Drachen lehnt und seinen Hals krault spiegelt beides wieder. Ich denke, ich bin die Einzige, der das auffällt. Auch die Anderen steigen nun wieder in den Sattel. Stumm sind wir zu dem Einverständnis gekommen, dass wir mit ihr gehen werden. Wir, dass sind Hicks und Ohnezahn, Rotzbacke und Hackenzahn, Fischbein und Fleischklops, Raffnuss, Taffnuss, Kotz und Würg, Viggo und Lyra, ich und Sturmpfeil und Lydia. Denn wir kannten sie nur kurz und sie hat vielleicht nicht alles an uns verändert, aber sie war ein Mensch, ein Teil unseres Leben und sie hat zu dieser Veränderung beigetragen. Ich denke daran, wie ich mir vorgestellt habe zu fliegen und wie ich es jetzt wirklich tue. Sturmpfeil unter mir schnaubt leise. Sie ist warm und bereit für den Flug. Den Flug über unsere Grenzen hinaus. Den Flug weit ins ungewisse und auch dieser Flug wird uns alle Verändern. Hoffentlich so, wie es die Begegnung mit Lydia und den Drachenjägern getan hat, zum Positiven. Ich greife nach Hicks' Hand und gemeinsam fliegen wir über die ersten Berggipfel und für einen Moment denke ich, die rothaarige Wikingerin wäre immer noch bei uns.

Fünf Jahre - Was davon bleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt