16. Kapitel

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Das Mädchen ist älter geworden. Inzwischen hat sich einiges Verändert. Es hat sich mit seiner Situation abgefunden und es ist jetzt eine richtige Drachenreiterin. Es sind gestohlene Stunden, die es auf dem Rücken des Drachen verbringt. Es sind gestohlene Stunden, die es nicht in seiner Heimat verbringt. Es ist die Zeit, in der es weiterhin keine Maske trägt. Nur die eine, die ihre Herkunft verbirgt.

Es ist Nacht und das Mädchen steht oben auf einer der Klippen und schaut in die Sterne. Es macht sich Sorgen, Sorgen um das was kommen mag, wenn der morgige Tag vorbei ist. Da ist diese Ohnmacht wieder, bei der sie sich geschworen hat sie nie wieder so zu fühlen. Da ist diese Ohnmacht wieder, die sie schwächer macht als sie ist. Wieder einmal hat das Mädchen das Gefühl zu ertrinken, wie es dort allein auf der Klippe steht und in die Sterne schaut. Es hat das Gefühl zu ertrinken, in den Erwartungen der anderen und in seinen eigenen Prinzipien. Diese Nacht ist besonders klar, wie man es eigentlich nur von Winternächten kennt. Die Sterne funkeln wie tausend Diamanten zu dem Mädchen hinunter. Es denkt sich, dass es die schönsten Diamanten der Welt sind. Diamanten, die man nicht besitzen kann. Diamanten, nach denen kein Mensch mehr die Finger ausstrecken wird. Plötzlich knackt es hinter ihr. Das Mädchen, das eigentlich schon kein Mädchen mehr ist, zuckt leicht zusammen. Der laue Wind streicht über ihre Haut und sie überlegt, ob es der Drache sein könnte. Nein, das knacken hat sich nicht nach Drache angehört. Es hat sich nach Mensch angehört und das Mädchen kennt nur eine Person, außer sich selbst, die ab und zu an diese Stelle kommt. Lächelnd dreht es sich um. „Wenn das Licht eines Sternes zu uns kommt, ist der Stern manchmal schon erloschen. Wir sehen nur noch eine Erinnerung an ihn." Sagt es und stockt im selben Moment. Es ist nicht die Person, die es erwartet hat. Aber auch den Jungen, der etwas älter als sie zu sein scheint, kennt sie. Wie kann sie ihn nicht kennen, ihre ganze Welt kennt ihn? Das Mädchen mustert den Jungen. In seinen Augen steht die selbe Überraschung geschrieben, die wohl auch ihr Blick ausdrückt. Sie erkennt ihn, er aber hat wohl keine Ahnung mit wem er es zu tun hat. Obwohl das Mädchen den Jungen und das, wofür er steht, nicht ausstehen kann scheint er gar nicht so schlimm zu sein. Es ist ein magischer Moment, denn sie Beide haben ihre Gefühle nicht versteckt, in der Annahme niemandem zu begegnen.

Da fällt dem Mädchen sein Ruf wieder ein. „Entschuldigung, ich habe sie verwechselt." Sagt es mit distanzierter Stimme. Ihr Verhalten darf auf gar keinen Fall auf ihren Stamm zurückfallen. Denn auch wenn sie das Ereignis, das dieses Treffen erst möglich gemacht hat, verabscheut, so versteht es doch die Gründe dafür. Wenn es die kleine Chance auf Frieden vermasselt hätte, würde es sich das nie verzeihen. „Mit wem haben sie mich denn verwechselt?" Fragt der Junge nach. Sofort schleicht sich ein Lächeln auf das Gesicht des Mädchens. „Mit meinem Bruder." Sagt sie und unterschlägt die Tatsache, dass es eigentlich gar nicht ihr Bruder ist. Der Junge nickt nur, anstatt eine Antwort zu geben. Die Blicke der Beiden treffen sich erneut. Sie kommen zur stillen Einkunft niemandem davon zu erzählen. Niemand soll von diesem einen magischen Moment erfahren, in einer Welt in der das sehr schlecht für sie ausgehen könnte. Der Junge verschwindet wieder im Wald und das Mädchen wendet sich wieder den Sternen zu. Trotz ihrer Abscheu muss sie sich eingestehen, dass sie einen gewissen Respekt vor dem Jungen empfindet. Nicht jeder hätte so reagiert und eine kleine Stimme im Kopf des Kindes sagt, dass sie sich eigentlich gar nicht so unähnlich sind.

Nach diesem Moment beginnt eine spannende Zeit für das Mädchen. Immer wieder läuft sie dem Jungen von der Klippe über den Weg. Natürlich bei dem einen Ereignis in ihrer Heimat. Nun weiß auch er, wer sie ist. Als sie den Schiffen nachblickt muss sie sich eingestehen, dass ihre Denkweise sich von seiner gar nicht so sehr unterscheidet. Es verbietet sich weiter darüber nachzudenken, sondern macht weiter mit dem, was es aufgebaut hat. Doch auch hier läuft es dem Jungen immer häufiger über den Weg. Es scheint als wären sie wie Magneten, die sich immer wieder anziehen. Bei einer Feier auf einer anderen Insel schließlich rempelt sie ihn beim Rückweg versehentlich an. Es bereut es, nur Sekunden danach. Denn irgendwie sind sie auch bei diesem Gespräch auf einer Wellenlänge und so kommt es dazu, dass sie den Rest des Abends damit verbringen zu reden und zu tanzen. Es sorgt für einigen Klatsch, scheint aber nichts ernstes zu sein. Die Wege des Jungen und des Mädchens trennen sich nun immer häufiger und doch ist es anders, wenn sie zusammen sind.

Schließlich ist es wieder eine Feier, die das Leben der Beiden komplett auf Kopf stellt. Sie treffen sich erneut zufällig und der Junge fordert das Mädchen zu einem Tanz auf. Es lehnt den Tanz nicht ab, auch wenn es weiß, dass es besser wäre. Denn die Zeiten werden harter für sie alle. Es wäre nicht das Beste mit dem Jungen zu tanzen, der für alles steht, was sie verachtet und doch tut das Mädchen es. Die Beiden tanzen und reden und reden und tanzen. Sie verlassen die Feier gemeinsam, was ist den schon dabei? Wie bei ihrem ersten Treffen funkeln am Himmel tausende von Sterne. Jetzt, ein halbes Jahr später, können die beiden darüber lachen, während sie miteinander flüstern. Keiner von beiden kann bestreiten, dass es zwischen ihnen beträchtlich knistert. Es kommt eins zum anderen. Irgendwann kommen die Lippen des Mädchens denen des Jungen ganz nahe. Bevor sie richtig wissen, wie es ihnen geschieht, küssen sie sich und es wird nicht ihr letzter Kuss sein. Es ist ein schöner, gestohlener Kuss unter dem Sternenhimmel. Es ist aber auch der Beginn von etwas wunderschönen und schrecklichen zu gleich und das betrifft nicht nur das Mädchen.

Fünf Jahre - Was davon bleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt