4. Kapitel

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Lorelei

„Guten Morgen, Schlafmütze!" Begrüßt mich Theodora, kaum das ich die Augen aufgeschlagen habe. Ich lächele. So aufzuwachen ist hundert Mal schöner als in meinem einsamen Zimmer in der Festung. „Guten Morgen." Sage ich und will mich gerade erheben, als mich die Heilerin wieder auf mein Lager drückt. „Nichts da, du ruhst dich schön weiter aus, morgen kannst du vielleicht wieder aufstehen." Sagt sie und ich seufze. Innerhalb von so kurzer Zeit bin ich erneut auf der Krankenstation gelandet, auch wenn diese ziemlich improvisiert wirkt. Dieses Mal habe ich allerdings kein Gift geschluckt, stattdessen mehrere Schnittwunden am ganzen Körper, unter anderem eine am Bauch, durch die ich viel Blut verloren habe. Zumindest hat man mir das erklärt.
Es wird wohl eine Weile dauern, bis ich wieder im Vollbesitz meiner Kräfte bin. Den ersten Tag nach der Schlacht habe ich komplett verschlafen. Gestern war ich zumindest wieder so zurechnungsfähig, dass man mir erklären konnte, was alles passiert ist. Ich glaube ich hatte noch nie in meinem Leben so viele Besucher an meinem Krankenbett. Man hat mir erklärt, dass wir insgesamt vier verschiedene Gruppen waren, die in der Schlacht gegen Drago gekämpft haben. Nur drei wussten von einander.

„Du hast besuch!" Verkündet Theodora wenige Momente später und stellt mir ein Tablet mit etwas zu Essen hin. Es muss ein riesiger organisatorischer Aufwand sein, so viele Leute zu versorgen. Zumal die Vorratskammer wie das ganze Dorf vermutlich zerstört wurde. Im nächsten Moment taucht eine Person im Türrahmen meines kleinen Zimmer auf (da ich angeblich so viel Ruhe brauche bin ich mit einigen anderen Schwerverletzten in einem Zimmer eines der Schiffe der Berserker Armada einquartiert). Ich erkenne, dass es sich bei ihr um einen Mann handelt. Sein Alter kann ich nur schwer schätzen. Von seinem Körper her scheint er relativ jung zu sein, doch sein Gesicht strahlt die Erfahrung eines viel Älteren aus. Er scheint ein typisches Kind dieser Zeit zu sein. „Darf ich rein kommen?" Fragt er und kratzt sich am Hinterkopf. Ich nicke und während er zu mir an mein Lager kommt erkenne ich ihn auch wieder. Er ist der Drachenreiter, mit dem ich in der Schlacht geredet habe, der mit dem Nachtschatten. „Wie geht es dir?" Fragt er weiter, in seinen Augen kann ich sowas wie Schuldgefühle sehen. Macht er sich Vorwürfe, weil er nicht auf dem Schiff war? „Viel besser, als Theodora und die anderen Heiler behaupten." Antworte ich ihm und die Antwort entlockt ihm ein kleines Lächeln. „Das ist gut." Erwidert er. Dann tritt eine unangenehme Stille zwischen uns, die sich niemand so richtig zu brechen traut.
Schließlich ist es wieder der Drachenreiter, der erneut das Wort erhebt: „Ich hätte dich auch schon gestern besucht, aber es hat den ganzen Tag gedauert dieses Chaos einigermaßen in Ordnung zu bringen." Seine Stimme sollte wohl fröhlich klingen, doch seine Augen sehen einen anderen Ort. Ich glaube sie sind immer noch in der Schlacht, die mich fast das Leben gekostet hat. Diese Tatsache hat nur den einen Vorteil, dass ich mich an viele Details nicht mehr erinnere und das meiste bereits im Schlaf verarbeitet habe. So kann ich zumindest einigermaßen unbelastet mein Leben weiterleben, wie es vielen von uns nicht vergönnt ist. „Ich verstehe, es muss ein riesiger Aufwand sein, so viele Leute zu versorgen." Sage ich und meine damit, dass die meisten Wikinger, selbst die, die schon so viele Schlachten gesehen haben, nach dieser einen immer noch unter Schock stehen. Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis diese eine Nacht aufgearbeitet ist. Der Mann hängt einen Moment seinen Gedanken nach, dann streckt er mir seine Hand hin: „Ich bin Hicks." Stellt er sich vor. Ich versuche keine Miene zu verziehen, aber das ist nicht besonders einfach. Der Mann scheint mir eigentlich kein Hicks zu sein, nicht im Sinne von der Bedeutung des Schwächlings, die dieser Name für viele noch immer hat. Denn wenn einer so ein Erlebnis in so kurzer Zeit einiger Maßen verarbeiten kann, dann ist er viel, aber nicht schwach.
Jetzt verzieht Hicks sein Gesicht. „Schön, dass dir der Name so viel Freude bereitet." Sagt er. Die Ironie dahinter ist fast greifbar. Endlich ergreife ich seine Hand und schüttle sie. „Loreilei", sage ich. „So schlimm ist der Name nun auch wieder nicht." Wieder lacht Hicks ironisch auf. „Du musst ihn ja nicht tragen." Erwidert er und dann müssen wir beide lachen. Es ist ein gutes Gefühl und es rückt den Schmerz, den diese eine Nacht verursacht hat ein wenig weiter in die Ferne. An einen Ort, an dem er besser aufgehoben ist.

Als unser Lachen versiegt ist auch die angespannte Stimmung im Raum verschwunden. Hicks lächelt immer noch. „Du weißt gar nicht, wie viele Leute sich Sorgen um dich gemacht haben." Sagt er dann. Scherzhaft schüttele ich den Kopf. „Woher willst du wissen, wie viele Leute sich um mich gesorgt haben?" Frage ich und Hicks wird auf einen Schlag wieder ernst. „Weil in den letzten Tagen sehr viele Leute zu mir gekommen sind. Einige haben ihre Hilfe angeboten oder unsere Hilfe bei irgendwas gebraucht. Aber die meisten waren wegen irgendwelchen Verletzten oder verstorbenen da. Wir arbeiten noch immer daran alle zu identifizieren und Vermisste zu finden. Vor allem zwei Namen sind dabei immer wieder gefallen. Einer davon war deiner." Erklärt er mir und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. „Und der Andere?" Frage ich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen will. Über Hicks Gesicht zieht ein Schatten. Er muss die Person gut gekannt haben, um die es geht. Ob ich sie wohl ebenfalls kannte?
„Lydia", sagt Hicks und sieht mich dabei nicht an. Ich brauche mehrere hastige Atemzüge, bis die Information mein Gehirn erreicht hat. Lydia, er wird doch nicht Lydia, die Frau mit den roten Haaren meinen. „Sie ist in der Schlacht verstorben, ihre Leiche konnten wir bisher nicht bergen." Redet Hicks einfach weiter, dieses Mal ist seine Stimme angespannt und er redet schneller. „Du kennst doch ziemlich viele Leute bei den Drachenjägern und diesem Programm?" Fragt er dann und seine Haltung entspannt sich wieder etwas. Ich nicke zur Bestätigung, im Moment bin ich nicht in der Lage etwas zu sagen. „Gut, würde es dir dann etwas ausmachen eine Liste mit verstorbenen und vermissten Personen zu erstellen, damit wir irgendwann einen Überblick über das ganze Chaos haben?" Fragt mein Gesprächspartner weiter, während ich den plötzlichen Themawechsel noch verarbeiten muss. Wie in Trance nicke ich, auch wenn ich nicht genau weiß, worauf ich mich da einlasse.

Fünf Jahre - Was davon bleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt