12. Kapitel

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Astrid

Am Morgen des dritten Tages sehen wir auf einmal Berge am Horizont. Es sind mehr Gipfel, die in den Himmel ragen, als ich auf die Schnelle zählen kann. Dies könnte aber auch daran liegen, dass ich in der letzten Nacht wieder einmal schlecht geschlafen habe. Ob die Träume jemals wieder aufhören werden?

Ich bin allerdings nicht die einzige, deren Schlaf nicht sehr erholsam war. Viggo ist während der Reise immer stiller geworden, die Augenringe von Hicks sind nicht mehr zu übersehen und die Witze der Zwillinge sind träge. Nur Rotzbacke scheint einen wirklich ausgewogenen Schlaf zu haben. Dafür schaut er sich alle drei Minuten heimlich um und glaubt wir würden es nicht sehen. Ich kann meinen Freunden diese Last nicht nehmen. Selbst wenn ich es könnte würde ich selbst daran zu Grunde gehen. Aber durch diese Reise versuchen wir alle damit klar zu kommen. Sie wird uns auf andere Gedanken bringen. Ganz sicher!

Am Fuß des Gebirges sehen wir einige Hütten stehen. Das Dorf heißt Lilia und ist für seine Verschwiegenheit bekannt. Warum das so wichtig ist, keine Ahnung aber Fakten beruhigen mich. Wenn ich darüber nachdenke haben meine Gedanken keine Möglichkeit um andere Themen zu kreisen. Hicks schlägt vor, dass wir dort eine Pause machen um endlich wieder unter andere Wikinger zu kommen. Die Dorfbewohner haben keine Probleme mit Fremden und auch keine mit Drachen. „Sie halten sich aus allem Raus und machen recht gute Geschäfte mit den Reisenden." Sagt Viggo dazu und klingt dabei so, als würde er gerne noch ein „Faszinierend" hinzufügen. Seit dem Gespräch auf der Lichtung hat sich unsere Beziehung verändert. Ich hasse ihn nicht mehr, aber ich empfinde auch kein Mitleid mit ihm. Irgendwie hat uns dieses Gespräch zu mehr als nur Verbündeten gemacht. Hätte mir das Jemand vor gut drei Monaten gesagt hätte er wahrscheinlich in den nächsten Minuten eine Streitaxt am Hals gehabt. Gut möglich, dass es meine gewesen wäre. Dann landen wir und steigen ab. Die meisten Drachen folgen uns nicht, nur Ohnezahn bleibt. Er hat ohne Hicks nur wenig Möglichkeiten um gegen Angreifer anzukommen. Vor allem wenn diese fliegen können. Ich laufe neben den Beiden. Ab und zu tauschen Hicks und ich Blicke, wir verstehen uns fast schon ohne Worte. Ich hatte ehrlich angst, dass unsere Beziehung an der ganzen Sache zerbrechen würde. Bisher ist dies nicht passiert. Es scheint eher so, als würde sie noch stärker werden.

Zielsicher steuert Viggo das Gasthaus des Dorfes an. Im Gegensatz zu den anderen Hütten der Insel ist es aus Stein und um einiges Größer. Ein wenig erinnert es mich an die große Hall bei uns daheim. Nur ist der Raum, den wir betreten bei weitem nicht so groß. Er ist zugestellt mit Tischen und einer Art länglicher Kommode. Zusammen mit der niedrigen Decke wirkt der Raum sehr viel kleiner als es von außen scheint. Ein paar Wikinger sitzen hier, manche schauen auf als wir herein kommen. Doch die meisten scheint es nicht zu interessieren und viele Tische sind auch leer. Ein mittelalter Mann pfeift uns hinterher, ich kümmere mich nicht darum. Selbst wenn ich gemeint bin, soll er doch machen was er will.
Wir setzen uns an einen Tisch, der etwas abseits liegt. Alles hier ist so fremd, dass ich ganz überwältigt bin. Ich bin nicht die Einzige, die so denkt. Raffnuss gibt ihrem Bruder immer wieder einen Stoß in die Seite. Sie lächelt, wie es auch ihr Bruder tut, der sich sofort revanchiert. Neben den Beiden sitzt Fischbein, der sich mit großen Augen umschaut und dann etwas auf ein Blatt Papier kritzelt. Neben ihm sitzt Viggo, der vortäuscht entspannt zu sein. Aber seine Finger zittern, was mir zeigt das er es eben nicht ist. Hicks, der neben mir auf Viggos anderer Seite sitzt scheint eher neugierig als angespannt zu sein. Er beobachtet unsere Umgebung scheint aber nichts beunruhigendes zu finden. Das entspannt auch mich. Selbst Rotzbacke, der auf meiner anderen Seite sitzt, scheint sich etwas entspannen zu können. Außer unseren Gesichtern erinnert hier nichts mehr an die Schlacht. Vielleicht wird es hier leichter für ihn weiter zu leben. Ein junger Wikinger kommt zu uns an den Tisch und fragt uns was wir zu essen und zu trinken wollen. Viggo bestellt für uns alle und wir lassen es geschehen. Der Wikinger ist wahrscheinlich drei bis vier Jahre jünger als wir, eigentlich noch ein Kind. Wenn ich es mir aber recht überlege, dann waren wir auch nich viel jünger als wir angefangen haben den Erwachsenen unter die Arme zu greifen. Kaum einer achtet jetzt noch auf uns oder Ohnezahn, der sich neben dem Tisch auf den Boden gelegt hat. Er döst und sieht dabei so friedlich aus, dass ich mir kaum noch vorstellen kann jemals vor ihm Angst gehabt zu haben. Das alles ist noch gar nicht so lange her, aber es fühlt sich an als lägen Jahre dazwischen.

Noch bevor unser Essen da geht die Tür erneut auf und eine junge Frau steht im Türrahmen. Sie hat dunkelbraune Haare und einen intensiven Blick. Dieser gleitet über uns hinweg und ich bemerke, wie mehrere Gäste sich instinktiv klein machen. Sie sind allerdings nicht ihr ziel. Wir oder besser gesagt Viggo und Hicks sind es. Entschlossen geht sie auf die Beiden zu und ihre Augen scheinen bei jedem Schritt funken zu sprühen. Ich selbst habe Viggo lange Zeit nicht gemocht. Aber diese Frau hasst ihn, das ist unübersehbar. Sie scheint den Wikinger, der seit Lydias Tod irgendwie gebrochen ist, aus tiefstem Herzen zu hassen. So tief, dass ihr nicht auffällt, dass Viggo nicht mehr derselbe ist und Ohnezahn einen Sattel trägt. Sie starrt erst Viggo, dann uns und dann Hicks und Ohnezahn fassungslos an. Immerhin bekommen wir nicht den ganzen Hass ab, den sparrt sie sich für Viggo und Hicks auf. Die Stimmung im Raum ist seit ihrem Eintreten gekippt. Das merkt auch Ohnezahn, der plötzlich die Ohren aufstellt und seinen Kopf hebt. Hicks wirft ihm und uns allein einen Blick zu der unmissverständlich sagt, dass wir uns vorerst raushalten sollten. Die Situation erinnert mich sehr an unseren ersten Besuch auf der Vulkaninsel. Nur das dies neutraler Boden ist und wir uns für nichts rechtfertigen müssen. Als die Frau an unserem Tisch angekommen ist liegt ihr Blick auf Viggo. Dessen Mund umspielt ein amüsiertes Lächeln. „Hallo Lana, lange nicht gesehen..."

Fünf Jahre - Was davon bleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt