†
2018-11-09
10.12 p.mWir befanden uns wieder in der Wohnung, wo das alles irgendwie angefangen hatte. Hier hatte ich diesen unfassbaren Idioten kennengelernt, der mich K.O geschlagen und hierhin verschleppt hatte, weil er dachte, ich sei eine Mörderin mit übernatürlichen Fähigkeiten.
Und jetzt bot er mir einen Platz auf seinem viel zu kleinen Sofa an (wir müssten zwangsweise direkt nebeneinander sitzen), kochte uns einen Tee und kam zusätzlich mit einem kuscheligen roten Pullover und dicken Socken für mich zurück."Ich brauche das Zeug nicht", sagte ich aber und verschränkte die Arme. Es war komisch von ihm Sachen anzunehmen.
"Zieh es an, dir ist kalt. Du rennst mitten im Winter in nichts als einem kurzen Nachthemd herum", meinte er anklagend und hielt mir die Sachen direkt vor die Nase.
Ich weigerte mich weiter. Dafür waren wir schließlich nicht hier.
"Mir ist nicht kalt. Außerdem ist es immer noch Herbst, vielleicht hättest du im Kindergarten besser aufpassen sollen, als euch beigebracht wurde, welche Monate zu welcher Jahreszeit gehören."Jungkook grummelte tief.
"Und vorhin habe ich mich sogar noch gefreut, dich zu sehen", meinte er und ich starrte ihn an. Doch dazu blieb mir nicht viel Zeit, da es plötzlich dunkel um mich herum wurde, als Jungkook mir seinen Pullover über den Kopf zog.
Und wenn das nicht schon genug gewesen wäre, hob nacheinander meine Füße an und zog konzentriert seine Socken darüber, die genauso wie der Pullover ein wenig zu groß ausfielen."Hättest du zu meiner Zeit gelebt, hättest du dir dafür eine Ohrfeige eingefangen", kommentierte ich, als er sich hinsetzte.
Ich fädelte meine Arme durch die Ärmel und durfte sie noch ein wenig weiter nach oben ziehen, damit sie nicht über meine Hände reichten, aber das war aussichtslos, weil sie sowieso immer wieder runterrutschten.
"Warum hast du mir dann jetzt keine gegeben?"
"Weil meine Mom sie dir damals gegeben hätte."Danach war es still und wir nippten an unseren heißen Tees, mit dem Versuch, uns daran nicht die Zungen zu verbrennen.
"Du heißt also Mari. Wie ist dein Nachname?", fragte Jungkook und sah mich neugierig an. Ich zuckte nur die Schultern.
"Weiß ich nicht mehr. Wir vergessen unwichtige Dinge mit der Zeit. Einen Nachnamen brauche ich auch nicht, als Dienstleisterin für die Sterbenden. Mein Name hat keine Bedeutung mehr.""Ihr vergesst euer Leben mit der Zeit? Was hast du noch vergessen?"
Mit meinem besten 'ist das dein Ernst'-Blick sah ich ihn an.
"Woher soll ich das wissen? Ich habe es schließlich vergessen", zischte ich und trank einen großen Schluck von meinem Tee.
Jungkook tat es mir gleich.
"Sorry, ich bin nur neugierig. Aber jetzt zu meiner eigentlichen Frage, warum lebst du wieder?"Ich stellte die Tasse auf den kleinen Couchtisch und zog die Beine an meinen Körper, um gemütlicher sitzen zu können.
"Du weißt, ich lebe eigentlich gar nicht mehr", entgegnete ich ernst. Jungkook setzte ich in einen Schneidersitz und sah mich direkt an.
"Für mich wirkst du ziemlich lebendig, wie tot kannst du schon sein?"
"Ziemlich, glaub mir. Ich besitze zwar noch meinen physischen Körper, wie er vor meinem Tod war, aber das Leben wurde mir schon lange genommen. Das einzige, was mich so existieren lässt, wie ich war, ist der Tod. Sie hat für mich die Zeit stehen lassen, sie um einige Momente zurückgedreht. Aber dass ich gestorben bin, konnte sie nicht ändern.""Und wie genau bist du gestorben?", fragte er mit ruhiger, aufmerksamer Stimme.
Als ich nicht antwortete, fragte er auch nicht weiter nach. Ich wusste, er wollte eine Antwort, aber er wartete geduldig, bis ich dazu bereit war, ihm eine zu geben.
"Das war eine schreckliche Sache", begann ich und stockte, weil das einer der Momente war, die ich wohl als letztes vergessen würde. Immerhin war es mein Tod, das entscheidende Ereignis für mein jetziges 'Leben'."Wenn du darüber nicht reden willst, dann-"
"Nein. Nein, vielleicht ist es gut, einmal darüber zu reden. Auch wenn es grausam war. Nicht so grausam wie andere Tode, Morde, die ich bisher gesehen habe, aber wenn du in einem Körper steckst, der gerade stirbt ... das ist ganz anders, als daneben zu stehen und zu warten, bis die Seele deines Klienten endlich den Körper verlässt."
Ich redete leise, versuchte mir den Kloß in meinem Hals nicht anmerken zu lassen, bei der Erinnerung, die sich in meinem Kopf immer und immer wieder abspielte. Vielleicht sollte ich ganz von vorne anfangen."Mein Vater, er war ein einflussreicher Mann, machte gute Geschäfte. Wirklich gute Geschäfte. Eines seiner besten Geschäfte war, mich an den Sohn einer noch einflussreicheren Familie zu versprechen. Das war jahrelange Planung, jahrelanges Beziehungen knüpfen, ständiges Aufsteigen, dass mich damit dazu berechtigte einen Mann aus einem höheren Elternhaus zu heiraten.
Bis dahin war alles gut, doch als ich alt genug war, um zu verstehen, dass ich verkauft wurde, wehrte ich mich. Und dann wurde alles kompliziert."Ich linste zu Jungkook, der gespannt zuhörte und mich mit einem Blick betrachtete, der sein Mitgefühl aussprach. Dabei hatte ich den Höhepunkt der Geschichte, meiner Geschichte, noch gar nicht erreicht.
"Wir waren an diesem Abend mit besagter Familie zum Diner verabredet, in unserem Anwesen. Es spielte leise Musik, es gab tolles essen, aber ich genoss nichts davon. Ich blendete die Musik vollkommen aus und ich bekam kein bissen herunter, während die Erwachsenen über die bevorstehende Hochzeit plauderten und Pläne schmiedeten. Es war grässlich. Ich fühlte mich nicht bereit, mich an jemanden zu binden, ich mochte den Auserwählten nicht einmal. Er behandelte mich zwar freundlich, aber seine Art das zu tun ließ mich jedes mal wieder zurückschrecken und in meine Verteidigungsposition gehen."Ich nahm die Beine von der Couch und griff nach meinem Tee, trank ihn in einem Zug aus und setzte mich dann in einen Schneidersitz, wie Jungkook, um ihn ansehen zu können.
Jedoch sah ich weg.
"Es war nicht das erste mal an diesem Abend, dass ich ihn abwies. Schon mehrere Male hatte er versucht mich zu küssen, griff immer wieder nach meiner Hand, die ich ihm entriss. Er war sehr ... nach Körperkontakt aus. Nach jedem mal, dass ich wütend aus irgendeinem Zimmer gestürmt war, in dem die Hochzeitsfeier festgelegt wurde, war er mir nachgegangen, hatte seine Hände auf meinen Arm, auf meine Schultern oder auf meinen Rücken gelegt", erzählte ich angewidert und schüttelte mich, als mich eine Gänsehaut überkam. Ich schlang die Arme um mich.
"Er tarnte es als beruhigende Geste, doch nachdem er einmal mit seiner Hand meinen Nacken hochwanderte, hatte ich ihn jedes mal, bei der kleinsten Berührung direkt abgewiesen.
So auch an besagtem Abend und es gefiel ihm gar nicht. Er kam nicht damit klar, dass ich ihn nicht so wollte, wie er mich."Den Tränen nahe, bei dem Gedanken an die nächste Szene, stützte ich meinen Kopf auf meine Hände und versuchte mich zu beruhigen. Ich wollte nicht daran denke, was als nächstes geschehen war, doch die Gedanken rannen durch meinen Kopf, tauchten vor meinen Augen auf, als stand ich daneben.
"Brauchst du eine Pause?", fragte Jungkook sanft und hielt mir ein Papiertaschentuch hin.
Ich bemerkte, dass ich bereits angefangen hatte zu weinen und nahm sein Taschentuch mit zitternden Händen an.
"Darf ich dein Bad benutzen?"
Er nickte und sah mich traurig an.Mein Körper zitterte, als ich aufstand und meine Beine trugen mich kaum bis ins Badezimmer, doch als ich dort war, schloss ich die Tür und stützte mich aufs Waschbecken, vermied den Blick in den Spiegel und stellte das kalte Wasser an, um meine Hände und mein Gesicht zu waschen.
Das half ein wenig, um mich wieder zu beruhigen, doch der Kloß in meinem Hals blieb.
Nach wenigen Minuten saß ich wieder auf der Couch, gegenüber vom aufmerksam zuhörenden Jungkook.
"Bist du dir sicher, dass du mir den Rest auch noch erzählen willst?", fragte er sorgsam.
Ich nickte und lehnte mich an die Couchlehne.
"Entweder ganz oder gar nicht."
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Graveyard Whisper || jeon jungkook
Kısa HikayeHalloween, die Nacht des Schreckens und der Süßigkeiten. Doch was, wenn der Schrecken überwiegt und seltsame Dinge geschehen? Man kann sie ja schließlich nicht einfach aufhalten und die Welt von dem vermeintlichen Bösen befreien, das an Halloween di...