Nächtliche Gewohnheiten

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Ohne Leid würden wir nicht wissen, was Freude ist. ~ John Green

Es war mitten in der Nacht, genauer gesagt: 01.31 Uhr. Der Regen prasselte an meine Fensterscheibe, laut, dröhnend und voller Wut. Vielleicht hatte ich deshalb wieder einen Albtraum gehabt. Der Regen erinnerte mich an Schüsse in Afghanistan. Ich versuchte mir einzureden, dass es wirklich der Regen war. Denn über andere Gründe mochte ich nicht nachdenken. Ich seufzte und legte mich auf den Rücken, starrte an die Decke. Oder dorthin, wo die Decke war, denn es herrschte absolute Dunkelheit. Mein Bettlaken war ganz nass geschwitzt, genauso mein weißes T-Shirt und meine gestreiften Shorts. Ich legte den einen Arm auf die Stirn und merkte, dass diese ebenfalls feucht vom Schweiß war. Wieso, wieso musste das immer wiederkommen?

Früher hätte ich jetzt das Licht angemacht, wäre aufgestanden und hätte mir warme Milch mit Honig gemacht. Aber ich hatte Angst, Sherlock zu wecken. Ich wusste, dass er sich Sorgen machen würde, auch wenn er es nicht sagte. Wir kannten uns schon so lange, so etwas konnte er nicht vor mir verbergen.

Dann erwachte langsam wieder der pragmatische Mensch in mir. Ich brauchte ein neues Bettlaken, Sherlock hin, Sherlock her. Vorsichtig setzte ich mich auf. In völliger Dunkelheit war Angst etwas ganz anderes. 'Es ist lediglich die Angst vor dem Unbekannten, genauso wie die Angst vor Leichen', sagte ich mir; Sherlock hatte es mir vor ein paar Wochen erklärt. Ich spürte, wie meine Zehenspitzen den weichen Teppich berührten. Wie in Trance setzte ich die Füße auf und stellte mich hin. Ich tappte ganz langsam und ganz leise, um Sherlock nicht zu wecken, bis ich an der Tür ankam. Leider quietschte sie ein wenig. Ich drückte die Klinke hinunter, langsam, ganz vorsichtig....bis ich plötzlich Licht sah, das unter dem Türspalt hindurchdrang. War das schon die ganze Zeit so? Wahrscheinlich hatte ich es nicht bemerkt, weil das Licht sowieso sehr fahl war. Die Glühbirne in meinem Flur vor der Treppe nach unten war provisorisch und daher nur schwach.

Ich gab mir innerlich einen Ruck und öffnete die Tür. Und bekam fast einen Herzinfarkt.

Der Detektiv mit dem Verstand eines Philosophen, selbsternannter hochfunktionaler Soziopath und nervigster Mitbewohner aller Zeiten (aka Sherlock Holmes) stand vor mir.

„Sherlock, verdammt!“, fluchte ich. „Ich wäre fast tot umgefallen!“

Sherlock trug seinen weinroten Morgenmantel, sein graues T-Shirt und seine grau – schwarz gestreifte Pyjamahose. Seine schwarzen Locken, die mich irgendwie immer an Kaffee erinnerten, standen wild in alle Richtungen und er bedachte mich mit seinem Blick, mit dem er sonst immer Tatorte las.

„Du hast wieder von Afghanistan geträumt“, stellte er nüchtern fest. Ich konnte nur stumm nicken und merkte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Durch einen Tränenschleier in meinen Augen sah ich meinen Mitbewohner an. Normalerweise weinte ich nie, aber bei ihm war das...okay. Ich hatte das Gefühl, als könne ihn nichts schrecken und schon gar nicht ein weinender Exsoldat.

Sherlock trat näher an mich heran. Er holte tief Luft und legte sachte seine Arme um mich. Es war eines der vielen Dinge, die mich an Sherlock überraschten. Aber dieser Mann überraschte mich eigentlich jeden Tag mit seinem Intellekt, seinen Angewohnheiten und seiner Ansicht von der Welt.

Ich schloss die Augen, lehnte den Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag. Meistens beruhigte mich das. Wir waren kein Paar oder so etwas; aber nur Freundschaft war es schon lange nicht mehr. Es war...irgendwo dazwischen. Man muss schließlich nicht alles in uns bekannte Schubladen sortieren, es reichte, zu wissen, dass Sherlock und ich uns hatten.

Ich merkte, dass der Detektiv bei einer Umarmung immer noch sehr angespannt und zurückhaltend war, aber es wurde besser. Und ich beruhigte mich langsam.

„Danke, dass du immer für mich da bist“, murmelte ich. Er sagte nichts, aber ich wusste instinktiv, dass er lächelte.

Sein T-Shirt roch nach einer seltsamen Mischung aus Chemikalien, Tee und ihm. Trotz meiner trüben Stimmung musste ich lächeln. Dieser Geruch war zuhause, er war vertraut. Mein Herzschlag passte sich so langsam Sherlocks an. Mein bester Freund ließ mich langsam los, fasste mich an den Schultern und sah mir in die Augen.

„Besser?“

Ich wischte mir über die Augen. Verdammt, manchmal hasste ich mich dafür; ich konnte Weinen nicht ausstehen. „Besser.“, schniefte ich. Sherlock lächelte mit warmherzig an und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

„Ich..hole mir noch eben ein neues Laken“, murmelte ich und lief zum Schrank neben der Treppe, in dem Bettlaken, Handtücher und anderer Stoffkrams untergebracht war. Ich nahm das oberste Laken vom Stapel, wickelte mich hinein und schlurfte zurück zu meiner Schlafzimmertür, während der Detektiv mich, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, beobachtete. Allmählich kehrte die Müdigkeit zurück und ich gähnte.

„Gute Nacht, Sherlock, und danke nochmal“, sagte ich, als ich spürte, wie meine Augenlider schon schwer wurden.

„Gute Nacht, John.“, Sherlock sah mich für einen Augenblick mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck an, den ich nicht ganz deuten konnte. Wäre es nicht Sherlock, hätte ich ihn wohl als liebevoll bezeichnet. Kurz zuckte seine Hand in meine Richtung, dann besann er sich und lief die Treppe hinunter. Ich löschte das Licht im Flur, tappte zu meinem Bett und rollte mich zusammen. Bevor ich weiter über meinen eigenartigen Mitbewohner oder Albträume nachdenken konnte, war ich bereits eingeschlafen.  

The world belongs to the courageous (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt