Die erste große Liebe

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Am nächsten Morgen wachte ich erst gegen 11 Uhr auf. Heute war Montag, mein erster Urlaubstag von vierzehn. Ich gähnte, streckte mich und schwang die Beine aus dem Bett. Das Wetter war leider nicht besser geworden, aber immerhin war es schon Ende Oktober. Was sollte man da erwarten?

Plötzlich fiel mir der nächtliche Zwischenfall wieder ein. Manchmal war Sherlock wirklich seltsam – das heißt, seltsamer als sonst. Sein Verhalten tagsüber hatte sich nicht gebessert, aber nachts, im Stillen, schienen einige seiner Grenzen zu fallen, ja, er wirkte fast fürsorglich.

Ich zog meinen Morgenmantel über (in dem ich leider nicht so elegant wie Sherlock aussah) und wurde vom Teeduft in die Küche gelockt. Sherlock saß bereits dort, las Zeitung und aß Toast.

„Morgen“, sagte ich und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Es stand bereits alles auf dem Tisch – daran war bestimmt Mrs. Hudson schuld. Denn Sherlock deckte nie den Tisch, auch nicht, wenn ich ihn mal darum bat. Ich bestrich mir ein Toast mit Orangenmarmelade und überlegte, was ich heute machen wollte. Da ich im Moment solo war, beschloss ich, heute Abend in meine Lieblingsbar zu gehen und – hoffentlich – eine Frau aufzureißen. Aber vorher musste noch eingekauft werden.

~*~

Nach dem Frühstück duschte ich, zog mich an und suchte mein Portemonnaie und meinen Schlüssel.

„Sherlock?“, rief ich, als ich in meiner Jackentasche kramte. „Hast du mein Portemonnaie gesehen?“ Keine Antwort. Seufzend stapfte ich ins Wohnzimmer, wo mein Mitbewohner mit geschlossenen Augen auf der Couch lag.

„Hast du mein Portemonnaie gesehen?“

Er öffnete langsam ein Auge. „Es ist da, wo es immer liegt, wenn du es nicht findest.“ Ich verdrehte die Augen. „Ach ja, und wo?“

„Unter dem Spiegel neben den Schmetterlingen.“

Ich lief zum Spiegel, räumte allerlei Krimskrams (kleine Phiolen, Tücher mit undefinierbaren Flecken und Reste von Stadtplänen) zur Seite, entdeckte darunter den gesuchten Gegenstand und steckte ihn ein.

„Ich gehe jetzt einkaufen.“

„Offenkundig.“

Ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. „Soll ich dir was mitbringen?“

„Zigaretten.“

„Sherlock, du weißt, dass ich dir die nicht kaufe.“

Er drehte entnervt den Kopf zu mir. „Wieso fragst du dann überhaupt?“, fuhr er mich entnervt an.

„Keine Ahnung.“ Ich lief die Treppe hinunter, zog meine Jacke über und öffnete die Haustür. Im Moment regnete es nicht, aber der Geruch nach Regen lag noch (oder schon) in der Luft.

~*~

Im Supermarkt war meine Wut auf Sherlock schon wieder verraucht. Ich würde ihm zwar keine Zigaretten mitbringen, aber Honigkekse mochte er auch. Als ich an die Kasse kam, war dort bereits eine ziemlich lange Schlange. Ich seufzte und stellte mich hinten an, etwas anderes blieb mir wohl kaum übrig.

„Hey, kann es sein, dass du es bist, John?“

Überrascht drehte ich mich um. Vor mir stand Janet Waters. Janet und ich waren zusammen auf der Schule und sie war damals meine große Liebe. Damals hatte sie lange blonde Locken, wunderschöne grüne Augen und war eines der beliebtesten Mädchen der Schule. Jetzt hatte sie kurze Haare und war – natürlich – gealtert, sah aber kein Stück schlechter aus.

„Hey Janet!“, lächelte ich. Vielleicht musste ich ja gar nicht erst alleine ausgehen...

„Es ist ja schon ewig her! Aber ich lese ab und zu deinen Namen in der Zeitung, zusammen mit diesem Detektiv....wie hieß er noch gleich?“

„Sherlock, Sherlock Holmes. Und bevor du fragst: Wir sind KEIN Paar.“, grinste ich. Sie schmunzelte.

„Na dann...hast du heute Abend schon was vor?“ Das lief ja wie am Schnürchen.

„Nein, nichts Besonderes... ehrlich gesagt hatte ich gerade vor, eine alte Bekannte zum Essen einzuladen.“

Janet lächelte kokett und ihr Grübchen auf der rechten Wange kam zum Vorschein.

„Dann tun Sie das doch, Herr Doktor.“

„Hättest du Lust, heute Abend mit mir in der Marylebone Road in dem kleinen Lokal Essen zu gehen?“

„Sehr gerne. Um 19 Uhr?“

„Abgemacht.“

~*~

Wieder zurück in der Baker Street, warf ich Sherlock – der sich natürlich keinen Zentimeter bewegt hatte – seine Honigkekse in den Schoß.

„Hier, die sind viel gesünder als Zigaretten.“

„Du bist viel besser gelaunt als üblich. Offenkundig hast du eine attraktive Frau getroffen und dich mit ihr verabredet, eine Frau, die du schon vorher kanntest. Wahrscheinlich eine Jugendliebe.“

Ich verdrehte die Augen. „Ja, und ich habe keine Lust, mir anzuhören, wie meine Schnürsenkel dir das verraten haben.“

„Es waren zwar deine Hemdfalten, aber wie auch immer. Gehen wir heute Abend zu Angelo?“

„....du hast doch gerade selbst deduziert, dass ich heute Abend verabredet bin.“

„Ja und? Willst du lieber mit einer x – beliebigen Frau Essen gehen oder mit mir?“

„Lieber mit einer Frau, wenn du es genau wissen willst, da diese erstens überhaupt etwas isst und zweitens...“ Mir fiel nicht ein, wie ich Sherlock das mit dem Sex erklären könnte.

„Und zweitens hoffst du auf etwas mehr als nur ein Abendessen. Schon verstanden.“ Ich wusste nicht warum, aber irgendwie hörte sich Sherlock verletzt an. Ich verwarf diesen Gedanken schnell und schlug einen Kompromiss vor. „Wir können doch morgen Abend bei Angelo Essen gehen. Einverstanden?“

„Nein, schon gut.“ Sherlocks Ton signalisierte, dass die Unterhaltung hiermit beendet war.

Ich verstaute die Einkäufe, lief in mein Zimmer und suchte ein frisches Hemd und eine frische Hose heraus. Sollte ich vielleicht noch Blumen kaufen oder war das für den Anfang zu viel?

Janet war eher pragmatisch veranlagt, deshalb entschied ich mich dagegen. Während ich mein Zimmer notdürftig ein wenig aufräumte, fiel mir Sherlocks enttäuschter Unterton wieder ein. Wieso wollte er mit mir Essen gehen? Abgesehen davon, dass er sowieso nie etwas aß, machten wir das nur bei Observationen oder wenn ich während eines längeren Falls dringend Nahrung brauchte.

Mrs. Hudson hatte Recht: Wer wusste schon, was in Sherlocks komischen Kopf vorging?

Davon sollte ich mir nicht den Abend verderben lassen. Ich nahm ein ausgiebiges Bad, trug mein bestes Aftershave auf und las noch ein paar Seiten meines Buchs, bis ich mich schließlich zum Lokal aufmachte. Hätte ich an dieser Stelle gewusst, wie der Abend verlaufen würde, wäre ich vielleicht zuhause geblieben.

The world belongs to the courageous (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt