Düstere Szenarien

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Als wir zurück in der Baker Street waren, setzte sich Sherlock in seinen Sessel und legte den Kopf auf seine Fingerspitzen. Ich lief in die Küche und setzte den Teekessel auf.

„Willst du auch etwas?“

„Nein. Ich denke nach.“

Ich seufzte. Fälle aufzuklären war ja schön und gut, aber hin und wieder musste man auch mal Pause machen und etwas essen, oder zumindest etwas trinken. So konnte das nicht weitergehen.

„Sherlock, trink zumindest etwas Tee, okay?“

Keine Antwort.

Ich beschloss, ihm einfach eine Tasse zu machen. Ich stellte ihm sogar seine geliebten Honigkekse hin; dann setzte ich mich in den Sessel ihm gegenüber.

„Schon eine Nachricht von Lestrade?“

„Nein.“

„Aber sie wird ihn doch erreichen? Mir ist nämlich immer noch nicht wohl bei der Sache.“

„Das wird schon.“, winkte er ab. „Im Moment beschäftigt mich eher der Absender.“

Ich nippte an meinem Tee. „Hast du denn schon eine Ahnung?“

„Nichts Genaues. Ich hatte zwar bei Scotland Yard das Faxgerät auseinander genommen, aber auch nichts entdeckt. Sieht aus, als sei das im Moment noch eine Sackgasse.“ Er seufzte und nahm sich – zu meinem großen Erstaunen – einen Keks. Ich sagte nichts und schaute ihn nur erwartungsvoll an.

Er erwiderte meinen Blick etwas verwirrt. „Habe ich was im Gesicht?“

„Nein, ich warte auf dein Aber.“

„Mein Aber?“

„Ja. Jedes Mal, wenn du sagst, es sei im Moment noch eine Sackgasse, hast du schon einen vagen Verdacht.“

„Hab ich das?“

Ich verdrehte die Augen. „Kannst du bitte aufhören, ständig meine Worte zu wiederholen?“

Er grinste kurz; das Grinsen verschwand allerdings sofort wieder. „Ich muss dich leider enttäuschen John. Ich habe keine Ahnung.“

Er stand auf und ging in sein Zimmer. „Danke für den Tee.“

~*~

Um Punkt 18 Uhr kam Mrs Hudson mit einem Tablett herein.

„Hier, ich habe euch Abendessen gemacht!“, sagte sie mit einem Lächeln und ich erwiderte es.

„Vielen Dank, Mrs Hudson. Was würden wir nur ohne Sie machen?“ Der köstliche Duft von gebratenen Kartoffeln stieg mir in die Nase. Ich wollte aufstehen und Teller holen, aber sie hielt mich zurück.

„Ich mache das schon. Aber Sie können schon mal Sherlock holen. Wo ist er eigentlich?“

„In seinem Zimmer, und das schon seit Stunden! Es ist eher ungewöhnlich. Normalerweise legt er sich schließlich auf die Couch, wenn er nachdenken muss.“

Ich klopfte an Sherlocks Zimmertür.

„Sherlock? Es gibt Abendessen!“, rief ich.

Keine Antwort.

„Sherlock?“ Ich wartete kurz, ob sich etwas tun würde. „Sherlock, es wäre gut, wenn du zumindest ein Lebenszeichen von dir geben würdest!“

Keine Antwort.

„Ich komme jetzt rein.“, kündigte ich an und öffnete vorsichtig die Tür. Und mir stockte der Atem. Ich riss entsetzt die Augen auf.

Das ganze Zimmer war verwüstet, als hätte ein Kampf stattgefunden. Überall auf dem Boden lagen lose Zettel, Kleidungsstücke und dergleichen; die Schranktüren hingen schief in den Angeln, das Bett war komplett zerwühlt, hier und da gab es kleine Kerben im Holz und das schlimmste war: Das Fenster war sperrangelweit offen und die Gardine wehte gespenstisch im Wind.

„Mrs Hudson?!“, rief ich. Sie eilte herbei und stieß einen kurzen Schrei aus. „Wo ist Sherlock?“

Ich glaubte nicht, dass er noch in seinem Zimmer war, suchte Mrs Hudson zuliebe aber mit ihr alles ab. Aber außer unter dem Bett gab es eigentlich keine Möglichkeiten, sich zu verstecken.

„Wir müssen Lestrade anrufen. Schnell.“ Ich lief in die Küche und suchte hektisch „Greg“ in meinen Handykontakten. Mit zitternden Fingern drückte ich auf die eingespeicherte Nummer und wurde bei jedem Piepen nervöser. Endlich nahm der Inspektor ab.

„Greg? Hier ist John. … Gut, ihr habt die Bombe gefunden … und auch entschärft? Prima. Folgendes: Sherlock ist unauffindbar. … Nein, es ist keiner seiner üblichen Scherze, zumindest hoffe ich das für ihn …“ , ich lachte nervös.

„Er ist vor ungefähr drei Stunden in sein Zimmer gegangen und jetzt ist dort alles verwüstet. … am besten kommst du selbst her und siehst es dir an. … danke. Bis gleich.“ Ich seufzte und legte das Handy auf den Esstisch.

„Lestrade kommt gleich. Ich hoffe mal, dass das einer von Sherlocks dummen Scherzen ist … denn ich möchte mir nicht ausmalen, was die Alternative wäre.“

„Wenn das ein Scherz ist, dann … dann kann sich Sherlock Holmes auf etwas gefasst machen! So mit seinem Freund und mir umzugehen, also wirklich!“, rief Mrs Hudson erbost. Ich wusste aber, dass sie insgeheim auch schon voller Sorge war. Es herrschte ein angespanntes Schweigen; jeder ging seinen eigenen Gedanken nach.

Was, wenn Sherlock entführt worden war? Von dem Bombenleger, Moriarty oder einem anderen Feind? Wenn er vielleicht sogar schon tot war und seine Leiche in diesem Augenblick in einem dunklen Keller vermoderte? Ich schüttelte energisch den Kopf, um diese düsteren Szenarien loszuwerden. Die Minuten, die Lestrade bis hierher brauchte, kamen mir wie eine Ewigkeit vor.

Als wir endlich die Türklingel hörten, schreckten wir beide hoch; es kam mir wie der verzweifelte Schrei meiner Selbst vor. Was sollte ich ohne Sherlock machen?

Ich wollte das Kapitel zuerst "Ein Detektiv verschwindet" nennen, hätte damit aber quasi das gesamte Kapitel gespoilert. Also sorry für den etwas seltsamen Titel..

The world belongs to the courageous (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt