10.

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Chase hat die Hände über meine Augen gelegt, Jenny hält meine Hand fest und sorgt dafür, dass ich mich nicht aufs Maul lege.
Die beiden führen mich eine Treppe hoch und ich habe eine Ahnung, worum es hier geht. Eine Abschiedsparty. „Hätte ich die Treppe nicht wenigstens mit offenen Augen hochgehen können?", frage ich resigniert.
„Nein, hättest du nicht."
Die ganze Fahrt über musste ich eine Augenbinde tragen. Chase ist gefahren und Jenny hat mich davon abgehalten, mir die Augenbinde runterzureißen. Theoretisch könnte ich jetzt versuchen, Chase Hände los zu werden, aber vermutlich würde ich ihn dann die Treppe runter stoßen und das ist es mir dann doch nicht wert.
Mein Fuß sucht vergeblich nach einer weiteren Stufe. „Oh, sorry.", sagt Jenny und lässt meine Hand los. „Wir sind da."
Ich kann hören wie sie zwei Schritte nach vorne geht, heute trägt sie nämlich ihre grauen Stiefel und schummelt sich somit von 1,65 m auf 1,73 m. Wind schlägt mir ins Gesicht und plötzlich lehnt Chase sich zurück und hebt mich hoch, nur um mich gleich wieder abzusetzen. „Oh, wow, war da eine Stufe?"
Chase seufzt hörbar, nimmt die Hände weg und ein lautes „Überraschung!" ertönt.
Es ist eine kleine Rooftop Bar, eine von denen, die man mieten kann. Unwillkürlich treten mir Tränen in die Augen - meine Abreise wird mir erst jetzt so richtig bewusst.
Meine Familie steht da mit einigen Kommilitonen und alten Schulkameraden. Hinten hängt ein großes Schild, von hier aus sieht es aus, als wäre es aus Stoff.
LET THE ADVENTURE BEGIN
Die Buchstaben sind groß geschrieben, in verschiedenen Farben und ich glaube, dass sie sogar alle noch unterschiedlich verziert sind.
Überall hängen Lichterketten, langsam geht die Sonne unter und obwohl ich wusste, was vermutlich passieren wird: mit der Ausführung habe ich nicht gerechnet.
Meine Mom kommt auf mich zu und schlingt die Arme um mich, wischt mit dem Daumen eine Träne weg, die sich einen Weg nach draußen gebahnt hat. Ich murmele ein ersticktes Dankeschön.

Die Buchstaben sind mit kleinen Aufklebern und Zeichnungen gefüllt, jeder Gast durfte einzelne Stellen individuell gestalten. Es ist wunderschön.
Mit einem Glas Cola in der Hand stehe ich davor, Spencer hat den Arm um mich gelegt und im Hintergrund läuft leise eine Shawn Mendes Playlist.
„Lass mich raten... du hast das gemalt."
Mit dem Finger deute ich auf ein zugegeben, ziemlich schlecht gemaltes Auto. Aus dem Auspuff kommt ein Pfeil, der auf eine Limousine deutet. Spencer lacht sein ansteckendes Lachen. „Jup."
„Deine Zeichnung ist genauso schlimm wie deine Handschrift. Du bist ein richtiger Arzt."
Er zuckt mit den Schultern und löst seinen Arm von mir. „Dad hat eine schöne Handschrift."
Spencer war immer fasziniert von Dads Arbeit und er musste nicht zweimal darüber nachdenken, was er studieren möchte. Medizin. Ich finde es lustig, dass die Brüder unserer Familie, ausschlaggebend für unsere Berufswahl waren. Jedes Mal frage ich mich, auf wen wohl Gabriella kommt. Vielleicht hat sie aber auch ihren eigenen Willen. Das würde ihr zumindest sehr ähnlich sehen. Mit ihren zarten zehn Jahren hatte sie schon einige Hobbys, aber ihre Meinung darüber ändert sich fast schon schneller als die Jahreszeiten.
Mich überkommt Wehmut. Shawn tourt bis Ende Dezember und zum jetzigen Stand, werde ich jeden Abend dabei sein. Erst im Mai werde ich für einen Monat nachhause kommen.
Ich Schlinge die Arme um meinen Halbbruder. „Du vergisst mich doch nicht, oder?"
Sein Kinn auf meinem Kopf gestützt, lacht er leise. „Wie soll das denn so schnell passieren, Kate? Du bist doch nicht aus der Welt. Nur auf der Welt verteilt."
Von einem lauten klopfen gegen die Tür, werden wir unterbrochen. Quietschend öffnet sie sich.
Ich sehe Adrians Kopf. Er hat einen unsicheren Ausdruck auf seinem hübschen Gesicht und seine Augen suchen ganz eindeutig mich.
Auch von hier aus kann ich erkennen, wie seine Augen hin und her tanzen. Schließlich finden sich unsere Blicke. Ein sanftes Lächeln legt sich auf sein Gesicht. Die Unsicherheit kann dieses Lächeln trotzdem nicht verbergen.
Ich weiß, dass es ihm leid tut. Seit diesem Vorfall bei unserem Date, sind wir sehr distanziert im Umgang miteinander und ich kann mir denken, dass Chase ihn nicht eingeladen hat. Vermutlich hat Ashlyn sich dazu hinreißen lassen, ihm von meiner Überraschungsparty zu erzählen.
Ich wende den Blick von Adrian ab und meine Augen wandern rüber zu Chase, dem die Kinnlade runtergefallen ist.
Sein Kopf schnellt zu mir, aber ich signalisiere ihm, dass es okay ist.
Alle Geräusche scheinen in den Hintergrund zu rücken, meine Beine bewegen sich langsam auf Adrian zu. Als ich schließlich vor ihm zu stehen komme, kann ich wieder Shawns Stimme hören, die ein Lied singt, die Menschen um uns herum bewegen sich wieder. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich die ganze Zeit über bewegt haben.
„Hey.", begrüßen wir uns gleichzeitig.
„Ich hoffe ich störe deine Party nicht, aber... du kannst nicht einfach so abreisen ohne das wir uns ausgesprochen haben. Darf ich mich erklären?"
Ich nicke und ziehe ihn in eine Ecke, in der Chase uns nicht beobachten kann.
Adrian senkt die Hände in die Hosentaschen und richtet dann seine blauen Augen auf mich. Mein Herz schlägt eine Oktave höher. Das hat es in seiner Anwesenheit noch nie gemacht. Allerdings ist sein Gesichtsausdruck ziemlich intensiv und ziemlich liebevoll. Irgendwie auch ziemlich anziehend. Ihm tut es leid. Das kann ich richtig sehen, aber aus irgendeinem Grund weiß ich, dass auch seine Worte nichts ändern werden.
Er mustert mein Gesicht noch eine ganze Weile lang, so als müsse er überlegen, wie genau er seine Empfindung formulieren soll. „Als erstes muss ich wohl zugeben, dass ich neidisch auf diesen Job bin... das ist was ganz großes und ich...", er hebt entschuldigend die Hände in die Luft.
Ich neige meinen Kopf über das Geländer der Dachterrasse. Die Leute, die den Central Park besuchen, sehen unglaublich klein aus.
„Am schlimmsten war für mich aber, dass du mich vor deinem, na ja, Arbeitgeber als Kommilitonen vorgestellt hast und wie ihr euch angesehen habt..."
Keine Ahnung wie wir uns angesehen haben. Ich kann mich zwar noch ganz genau daran erinnern wie ich mich bei diesem Zusammentreffen gefühlt habe, aber ich kann nicht sagen, wie wir uns angesehen haben.
Schwer schluckend richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Ich mustere ihn. Seine Muskeln zeichnen sich deutlich unter dem Shirt unserer Universität ab. Fast habe ich das Gefühl, dass ich seinen Herzschlag sehen kann. Es würde zumindest Sinn machen, schließlich steht ihm die Aufregung in den Augen. Blinzelnd sehe ich wieder zu ihm hoch.
„Ich mag dich wirklich, Katherine.", gesteht er mir mit rauer Stimme. „Und ganz egal, ob du übersiehst, dass Shawn vielleicht etwas von dir will... ich will nicht, dass er dir wehtut."
Ich bin zu Hundert Prozent sicher, dass Adrian nun meinen Herzschlag sehen kann. Mein Herz wummert wie wild gegen meine Brust, ich habe das Gefühl, das mein Atem unregelmäßig geht. Wir sehen uns in die Augen. Die Intensität dieses Blickes ist unwahrscheinlich hoch und es ist das erste mal, seitdem ich mich dagegen entschieden habe, mich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen, dass ich ihm gegenüber Zuneigung empfinde.
Schließlich umfasst Adrian mein Gesicht mit beiden Händen, beugt sich zu mir hinunter und drückt seine Lippen auf meine.
Ich wurde schon mal geküsst, obwohl ich noch nie einen Freund hatte. Den Kuss habe ich damals mit Dan Brosnik in der achten Klasse geteilt. Er war federleicht und kaum zu spüren, aber wir wollten unbedingt den berühmten ersten Kuss erleben.
Dieser Kuss hier, ist anders. Er ist fest und intensiv - Adrian weiß genau was er tut. Ich brauche ein paar Sekunden um zu realisieren was geschieht, dann erwidere ich den Kuss. Seine linke Hand rutscht von meiner Wange und legt sich auf meinen Rücken. Meine eigenen Hände sind gegen seine Brust gedrückt und als Adrian mich näher an sich zieht und seinen Mund leicht öffnet, wache ich auf.
Ich fühle nichts. Abgesehen von seinen Lippen auf meinen. Es ist ein wirklich toller Kuss, aber einmal mehr wird mir klar, dass ich wirklich nicht auf diese Weise für Adrian empfinde.
Seine stürmische Art gefällt mir nicht. Unwillkürlich stelle ich mir die Frage, wie viele Mädchen er so schon erobert hat.
Ich gehe einen Schritt nach hinten und löse mich so von ihm. „Tut mir leid..."
Adrian fährt sich mit den Händen übers Gesicht. „Schon okay.", sagt er tonlos. „Aber lass dir eins gesagt sein: Shawn ist kein Stück besser als ich, nur weil er Millionen auf dem Konto hat."
Er wendet sich zum gehen, aber ich halte ihm am Handgelenk fest. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich einfach losreißen könnte, weswegen ich es ihm ziemlich hoch anrechne, dass er mich sprechen lässt. „Hör auf mir zu unterstellen, dass ich etwas von meinem Chef will. Kapier endlich, dass das ein Job ist, Adrian."
Ich lockere meine Finger und lasse ihn los. Er sagt nichts mehr, sondern verlässt einfach die Terrasse.

Shawn Mendes: We keep this love in a photographWo Geschichten leben. Entdecke jetzt