Die Klasse 10c

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Hannes drückte Ellis Hand, die Berührung von Ollis und Oskars Sohn war tröstlich. Elli konnte Hannes nicht mehr richtig erkennen, mit ihren neunzig Jahren bekam sie allmählich Sehschwierigkeiten.

,,Kannst du bitte dafür sorgen, dass man meine Werkstatt ordentlich behandelt?", fragte sie, und sie hörte, wie kräftig ihre Stimme noch klang, auch mit neunzig Jahren, einen Tag nach ihrem Geburtstag.

Hannes nickte, sagte aber nichts. Elli vermutete, dass es schlimmer war, jemandem beim Sterben zuzusehen, als die Nachricht überbracht zu bekommen.

Sie hatte ein gutes Leben gehabt. Es war nicht perfekt und sie war selten glücklich gewesen, aber es war gut. Elli hatte all ihre Jahre darauf verwendet, Wünsche zu erfüllen, und sie hatte es geschafft.

Sie hatte gelernt, dass es Wunder gab, als sie mit dem Helikopter in ein Land geflogen war, dem es schlecht ging, und dort hatte sie Menschen getroffen, die um so vieles stärker waren als jeder andere, den Elli bis dahin kannte. Diese Menschen waren Wunder, und damit waren schon zwei Punkte erfüllt.

Elli war einmal in eine Schule eingebrochen und hatte viel Geld bezahlen müssen, sie hatte Tokios Kreuzung besucht, die 10c hatten am zweiten Grabsteintreffen eine Floßtour gemacht, mit einem Floß, dass sie selbst gebaut hatten. Sie hatten TheFatRat in einem Videochat-Interview getroffen, und das zählte auch.

Ulrike war zu den Olympischen Spielen gegangen, als Zuschauerin. Dort unten vor den Preisrichtern zu landen war ihr großes Ziel gewesen. Sie hatte trainiert und trainiert, Elli verfolgte Sport nicht mit, aber sie glaubte fest daran, dass Ulrike es geschafft hatte.

Lilli war Vorsitzende eines Verlags gewesen, sie hatte Mareikes Comics und Noras und Ellis Zusammenarbeitsbuch herausgegeben, das Buch, in den sie von der Wunschliste erzählt hatten. Elli hatte Lilli oft besucht, und obwohl sie nicht viel miteinander gemeinsam hatten, war es doch schön gewesen zu sehen, wie glücklich Lilli in ihrem Job und ihrer Familie und ihrem Leben war.

Nora war nie aufzuhalten gewesen, nur zu den Grabsteintreffen war sie in Deutschland gewesen. Ansonsten war sie überall auf der Welt, lernte Sprachen und Kulturen und war ein Mensch, wie Nora eben nur sein konnte. Elli hatte sie nicht getroffen, aber trotz Reisen war der Kontakt nie abgebrochen.

Mareike hatte bei Lilli im Verlag gearbeitet und Comics gezeichnet und Bücher illustriert, und manchmal hatte sie an Comedy-Wettbewerben teilgenommen. Sie hatte Witze erzählt, die sogar Elli verstand, wenn sie im Publikum saß, und da hatte die Dunkelhaarige gemerkt, wie zufrieden Mareike war. Irgendwann war sie aus der Kirche ausgetreten, sie mochte diese Religion nicht, und hatte mit der ehemaligen 10c eine große Feier veranstaltet, auf der sie sich dann auch wirklich betrunken hatte.

Samuel hatte sich auf der Klassenfahrt damals in ein Mädchen aus Italien verliebt, nach seiner Ausbildung war er zu ihr gezogen. Ihre Ehe hatte mehr als zwanzig Jahre lang gehalten, aber dann ging etwas kaputt und Samuel kam zurück, ohne Ehefrau. Er hatte dann jemand anderen kennengelernt, und er hatte Tina auch Elli vorgestellt. Elli mochte sie zwar nicht, aber Samuel zuliebe hatte sie nie etwas gesagt, denn er war ja glücklich.

Maarten war aus der Magersucht herausgekommen und die Depressionen waren irgendwie ein bisschen weg. Er und Elli hatten jahrelang in einer WG gelebt, bis es ihm besser ging und er zu seiner Freundin gezogen war. Elli wusste, dass Maarten das Gefühl hatte, sie im Stich zu lassen, aber sie war ihm nie böse gewesen. Sie hatte gesehen, wie gut Svenja ihm getan hatte, und das war ihr genug.

Janine hatte ausgesagt, ihr Stiefvater war irgendwann im Gefängnis gestorben und niemandem tat das Leid. Er hatte Janine Schlimmeres angetan, als je einer ausgesprochen hatte, nur Janine selbst konnte vollkommen frei darüber sprechen. Elli hatte sie erlebt, wie sie zu den Opfern gesagt hatte ,,Ich wurde auch vergewaltigt" und das ohne jede Art von Hass oder Reue oder Angst oder einem Trauma in der Stimme. Janine hatte das von früher erfolgreich verarbeitet, das wusste Elli, und sie war froh darüber.

Olli und Oskar hatten nie weit weg von Elli gewohnt, und das hatte sie gefreut. Die beiden waren ihre Leben lang zusammengeblieben. Ob es Schicksal war, dass beide am selben Tag gestorben waren, oder ob es einfach nur so war, das wusste Elli nicht, aber sie wusste, dass es gut so war.

Elli war kurz davor, zu sterben, sie vermisste die 10c. Die Menschen, an die sie eben gedacht hatte, waren seit Jahren tot, und Elli war die Letzte aus der Klasse, die noch lebendig war. Ein bisschen hatte sie Angst davor, weil was war, wenn doch gar nichts nach dem Tod kam? Aber ein bisschen freute sie sich auch darauf, weil sie dann endlich ihre Klasse wiedersehen konnte.

Sie musste Wanze schließlich noch von den Wundern erzählen, die sie getroffen hatte.

Wie man sich Wünsche erfülltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt