18. Vera
Er lachte kurz auf und ging durch die Tür nach draußen. Sie wartete, bis sie keine Schritte mehr hörte. Dann blickte sie auf dem Boden rum. Vera hatte vom Leben eine verbesserte Sicht und Hirnkapazität erhalten. Die kleinsten Gegenstände konnten jedes Schloss knacken. Ein Nagel, ein Strohhalm…
Oder eine Feder. Eine tiefschwarze Feder, die auf ihrer Schulter lag. Sie grinste. Er war zwar tot, aber immer noch ein Mann, und die tendierten dazu, Blind vor Wut zu werden. So hatte er vorher beim Schlagen nicht gemerkt, dass er diese verloren hatte. Jetzt musste sie sich aber beeilen, denn die Fesseln sogen ihr die Kraft aus. Dieses Metall würde sie ihrem Meister überbringen. Sie konzentrierte sich und dachte nach. Nach einer Zeit hatte sie eine Möglichkeit gefunden, die Fesseln zu lösen. Langsam renkte sie ihren Kiefer aus, bedacht die neuen Wunden nicht aufzureißen. Als ihr Mund doppelt so groß war wie sonst, holte sie tief Luft und blies stoßartig. Die Feder wurde von dem Windstoß mitgerissen und landete in ihrer rechten Hand. Gut. Schritt zwei. Sie nahm die Feder zwischen Zeigefinger und Daumen, steckte sie ins Schlüsselloch und stocherte darin herum. Bisher hatte kein Gefängnis der Welt sie halten, ein staubiger alter Kerker wäre da definitiv keine Ausnahme. Und tatsächlich, einen Augenblick später klickte es und ihr Handgelenk war frei. Darauf bedacht keine lauten Geräusche zu machen, hielt sie die Fessel fest, und ließ sie dann sacht wegschaukeln.
Mit einer freien Hand hatte sie dann nach kurzer Zeit alle anderen Gliedmaßen befreit. Gleich kommt die Wache, dachte sie und stellte sich neben die Tür. Wartete. Dann ging die Tür auf. Sie überwältigte den Wachposten und legte ihn auf den Boden. Anschließend stellte sie sicher, dass er bewusstlos war. Um ihr einen Vorsprung zu gewähren, zog sie sich aus, legte ihre Kleidung neben sich und zog den Wächter aus. Dessen Uniform zog sie an und legte dem Wachposten ihre an. Zum Schluss nahm sie ihn und legte ihm die Handschellen an. Sie nahm die Fußfesseln und schnitt den Teil, der im Boden steckte, an sich. So sah es aus als hinge immer noch sie da. Allerdings fehlten dem Wächter ihre Haare. Schweren Herzens nahm sie das Messer ihres Opfers und schnitt sich die Haare ab. Zuletzt schlitzte sie ihm den Kopf auf und steckte das Büschel Haare hinein.
Vera betrachtete ihr Werk. Wunderschön. Hätte sie ihr Handy, hätte sie ein Bild gemacht.
Außerhalb der Zelle wurde sie nicht angesehen. Niemand erkannte sie, dank der Uniform und der tief ins Gesicht gezogenen Mütze. Nach nur fünf Minuten war sie draußen und fand sich auf dem Schulhof wieder. Früher wollte sie immer Lehrerin werden. Aber dann zeigten sich bei ihr die Symptome, durch welche sie mit sechs Jahren bereits ihre Mutter verloren hatte.
Lungenkrebs, mit neun Jahren.
Ihr Vater konnte mit dem Stress nicht leben, gab sich vor ihrem Krankenhaus Bett die Kugel.
Noch heute konnte sie den Geruch der an der Wand klebenden Hirnmasse nicht vergessen. Als auch für sie keine Hoffnung mehr in Sicht war, kam ein sehr alter, netter Mann an ihr Bett.
„Hallo, meine Kleine. Ich habe gehört, dass es dir nicht so gut geht. Magst du mir deine Geschichte erzählen? Sieh mal, ich habe dir Gummibärchen mitgebracht.“ Und sie hatte ihm ihr Herz ausgeschüttet. Sie endete ihre Geschichte. „Ich werde sterben, Onkel Doktor.“ Eine einzelne Träne kullerte ihr die Wange herunter. Der alte Mann aber lachte freundlich. „Vera, ich glaube du verstehst mich nicht. Ich bin hier, um dir zu sagen dass ich dich retten kann. Du musst nichts dafür tun, nur mit mir mitkommen. Weißt du, ich habe deine Eltern beide gekannt. Und habe beide versucht zu retten. Aber ein sehr böser Mann hat sie dir beide genommen.“ Die Kleine konnte ihren Ohren nicht trauen, und wurde wütend. „Ich kann dich retten, alles was du dafür tun musst, ist einen Schwur abgeben. Dass du nur mir gehorchst, und alle meine Aufträge ausführst. Dann kannst du stärker werden und deine Eltern beide rächen. Was sagst du dazu?“ Sie nickte. „Ausgezeichnet!“, rief der Mann aus, und ihre Ausbildung begann.
Sie dachte gerne an den Tag zurück, an dem das Leben sie mitgenommen hatte. Seitdem hatte sie eine Bestimmung. Sie hatte ein Ziel. Und wenn sie das erreicht hätte, wer weiß, vielleicht würde sie dann ja Lehrerin werden…