Cardi [22]

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Ein scheiß Tag

Am Dienstag Morgen, an welchem Julien das Krankenhaus verließ, hatte ich nicht die beste Laune. Da Dimitri arbeiten war und mich gebeten hatte Julien zu ihm in die Wohnung zu fahren musste ich nach nur fünf Stunden Schlaf wieder aufstehen. Die langen Nachtschichten taten mir mittlerweile gar nicht mehr gut; ständig war mir morgens übel und ich hatte extreme Stimmungsschwankungen. Juri hielt das nur mäßig aus, sein Ventil für die meinetwegen angestaute Wut war seine Arbeit. Ich sagte ihm dennoch oft wie dankbar ich für seine Anwesenheit war und spätestens als er mir auf dem letzten Date die Liebe gestanden hatte wusste ich, dass er mir meine Zickereien verzieh. Julien tat es an dem Morgen genauso wie Juri, denn er sprach kein unnötiges Wort mit mir und belästigte mich auch nicht mit Albernheiten.

Auf dem Weg in die Innenstadt standen wir im Stau und ich merkte plötzlich wieder, dass mir ungemein übel wurde. Es kam immer so plötzlich und unerwartet, sodass ich nur wenig Zeit zum reagieren hatte. Julien sah mich misstrauisch an und fragte:
»Ist alles okay? Du siehst blass aus. Willst du vielleicht-«
In dem Moment riss ich die Autotür auf, beugte mich heraus und übergab mich auf den Asphalt. Das Ausmaß war nicht groß, schließlich hatte ich nichts gefrühstückt und nur ein paar Schlucke Wasser und ein halbes Glas Gewürzgurken seit gestern Mittag zu mir genommen. Juliens Hand strich beruhigend über meinen Rücken. Zitternd wischte ich mir mit einem Taschentuch über den Mund, richtete mich auf und schloss die Autotür mit Schwung. Danach lehnte ich mich einfach nur erschöpft zurück in den Sitz und sah kurz zu Julien, doch dieser verurteilte diese Aktion glücklicherweise nicht. Ich murmelte:
»Sorry.«
»Wir tauschen.« gab Julien ernst zurück und machte Anstalten aus dem Auto zu steigen, doch ich hielt ihn davon ab.
»Nein, Julez. Dein Körper ist noch nicht fit und die Schmerzmittel betäuben dich nur. Dein letzter Unfall ist Schuld daran. Wir tauschen nicht.«

Für einen Moment erweckte er den Anschein tatsächlich sitzen zu bleiben, doch Julien wäre nicht Julien wenn er einfach meinen Anweisungen folgen würde. Er stieg aus und ich unterwarf mich seiner Dreistigkeit ohne wenn und aber, auch wenn mich Dima in Gedanken schon dafür umbrachte. Ich nahm auf der Beifahrerseite platz während Julien den Sitz ein wenig zurück schob und mich fragte:
»Tacobell?«
Ich nickte langsam. Es war für mich nicht üblich Morgens um halb zehn Tacos zu Essen, aber salziges und feurig-scharfes mexikanisches Essen war genau das, was ich jetzt brauchte. Julien konnte sicherlich Gedanken lesen. Oder er war einfach ein verdammt guter Freund.
Als der Stau endlich vorbei war und Julien relativ entspannt zum nächsten Tacobell fuhr, schlief ich bei dem gleichmäßigen Summen des Autos und das vorbei fliegen der Lichter und Gebäude fast ein, doch ich zwang mich wach zu bleiben, falls etwas mit Julien passieren sollte. Meine Sorge war unberechtigt; er setzte uns beide heile bei Tacobell ab und wir betraten das Restaurant wie zwei Penner. Es war bloß ein Wettraten wer von uns beiden die größten Augenringe hatte.

Ich schaufelte heißhungrig zwei Tacomenüs in mich rein und mein Hungergefühl sah einfach kein Ende. Julien hatte einen ganzen Tisch für uns mit tausenden Sachen bestellt, von denen er selbst immer ein bisschen probierte und ich den gesamten Rest aß. Erst am Ende viel mir auf, wie viel ich in mich rein gestopft hatte, denn Julien wirkte so wie immer. Ihn störte es kein bisschen mich so gierig zu sehen, er machte sich auch nicht über mich lustig. Etwas kleinlaut murmelte ich:
»Sorry, man. Ich hatte so Heißhunger, ich-«
»Ich hab gerade übel Bock auf was Süßes.« unterbrach mich Julien nachdenklich und tippte mit der Fingerspitze gedankenverloren auf seinem Display rum. Mit leuchtenden Augen sah ich ihn an und rief begeistert:
»Ich auch! Warum denken wir immer das selbe heute?«
Er grinste und schob sein Portmonee in die Hosentasche, bevor er aufstand und mir immernoch lachend sagte:
»Komm, wir fahren noch bei McDonald's vorbei.«

Nachdem wir noch Juliens heiß-geliebtes McDonald's Eis geholt hatten fuhren wir zu Dimas Penthouse. In Juliens Wohnung aßen wir das Eis zuende und redeten noch über Dima und seinen Stress bevor ich vor Gähnen kaum noch ein Wort hervorbringen konnte. Müde erklärte ich Julien:
»Ich muss nach Hause, ganz dringend. Heute Abend habe ich Schicht.«
»Dann schreib Juri, dass du heute hier bleibst. Geh bei mir duschen, Klamotten sind im Kleiderschrank, wenn Dima noch welche übrig gelassen hat. Durch den Verkehr kommst du eh nicht. Ich lasse dich jetzt nicht fahren.« sagte Julien und stellte sein Eisbecher unbekümmert auf dem Couchtisch ab. Diese einfachen Worte waren so herzlich, dass sie mich von innen aufzuwärmen schienen. Und plötzlich realisierte ich, dass ich diesen Julien in ein paar Wochen nicht wieder sehen würde. Diese Art von Liebe, die er mir gab wenn es mir schlecht ging, würde kein anderer mir auf diese Weise geben. Auch wenn der Gedanke vorerst nur ein Gedanke war brachte er mich bitterlich zum weinen.

»Was ist denn?« fragte Julien überrascht und ich versuchte die vielen Tränen zu trocknen, die über meine Wangen liefen.
»Ich will nicht, dass du gehst.« antwortete ich schluchzend. »Und ich kann einfach nicht aufhören zu heulen! Heute ist ein scheiß Tag. Was ist nur los mit mir?«
Julien drückte mich kurz an sich und seufzte, ehe er mir leise versprach:
»Geh unter die Dusche, leg dich bei mir ins Bett und schlaf dich aus. Dann wird der Tag auch besser, ganz sicher.«
Ich nickte nur und konzentrierte mich darauf nicht mehr wie ein Schlosshund zu jaulen. Langsam schlurfte ich bei Julien in das Badezimmer und entkleidete mich vollständig, wobei mir auffiel, wie sich meine Figur zum positiven gewandelt hatte. Es machte mich stolz durch die Workouts Fortschritte zu sehen und sogar meine Oberweite schien sich vergrößert zu haben. Nach den über 30 Jahren meiner Lebenszeit hatte ich mit meinem Körper wohl doch etwas Glück.

Ich ließ das warme Wasser auf meine Haut prasseln, rieb mich mit Juliens ziemlich männlich duftenden Duschgel ein und fragte mich, wie er sich jetzt wohl fühlte. Schließlich wirkte er so gelassen und hielt Dima auch nicht von der Arbeit ab, also hatte er sich vielleicht schon mit seiner Situation abgefunden, im Gegensatz zu seinem Freund. Dieser versteckte sich lieber in seinem Büro als sich seinen Problemen gegenüber zu stellen.
Nachdem ich noch lange darüber nachgedacht hatte stieg ich aus der Dusche und wickelte mich in das weiße Handtuch ein. Im nächsten Augenblick wurde mir schon wieder heftig übel und ich übergab mich in die Toilette, woraufhin Julien von draußen rief:
»Lebst du noch?«
»Ja!« rief ich zurück und spülte meinen Mund kurz mit Wasser und Zahnpasta aus. Danach war wieder alles in Ordnung, ich hatte bloß das gesamte Badezimmer nass gemacht. Ich öffnete kurz die Tür und fragte:
»Hast du noch ein großes Handtuch? Hab das ganze Bad vollgetropft.«
»Das macht Bridget später. Leg dich ins Bett. Und nimm dir 'nen Eimer mit! Steht im Flur irgendwo.«
»Klar, Chef.« murmelte ich nur lasch und tapste den Flur entlang. Den Eimer fand ich in einer Ecke und nahm in direkt mit in das helle Schlafzimmer, welches ganz am Ende des Flurs lag.

Gähnend band ich mir das Handtuch um meine krausen Haare, nahm eine Jogginghose und ein T-Shirt aus dem Schrank und zog mir beides über. Ich war Julien unendlich dankbar dafür und ließ mich todmüde unter seine Bettdecke gleiten. In diesem Moment verehrte ich meinen besten Freund wie einen Gott, der mir das Leben geschenkt hatte. Selbst das grelle Licht von draußen, welches das Zimmer durchflutete, konnte mich nicht mehr vom schlafen abhalten. Also schloss ich nur unbekümmert die Augen und schlief tief und fest, bis Julien mich am späten Nachmittag weckte.

»Aufstehen, Belcalis.« brummte er und rüttelte an meiner Schulter. Gut ausgeruht streckte ich mich und schlurfte langsam aus dem Bett, auch wenn mir nicht zum Aufstehen zu mute war. Ich sagte ihm:
»Du bist ein Engel, Julien. Ich kann gar nicht wirklich ausdrücken, wie dankbar ich dir für alles bin.«
»Das ist selbstverständlich.« antwortete er und drückte mich kurz, bevor er mir meine Sachen in die Hand drückte. »Shirt und Hose kannst du meinetwegen behalten.«
»Quatsch.« meinte ich lachend. »Das bringe ich dir demnächst wieder. In der nächsten Zeit musst du damit rechnen, dass ich öfters hier auftauche.«
»Nichts lieber als das.« antwortete er daraufhin grinsend. Seine Ausstrahlung schaffte es immer jeden Menschen in seiner Nähe ein gutes Gefühl zu geben. Es war mir immernoch unschlüssig, wie er das machte. Während wir uns voneinander verabschiedeten fiel mir auf, dass Dima immernoch nicht hier war. Als ich Julien darauf ansprach sagte er:
»Ja, ich muss dringend mit ihm darüber reden. So geht das nicht weiter, er überarbeitet sich total.«
»Sag ihm einfach dass du deine letzte Zeit mit ihm verbringen willst.« schlug ich ihm vor. Er zuckte mit den Schultern und sagte:
»Das habe sich schon sehr oft. Aber das wirkt leider überhaupt nicht.«

Seufzend klopfte ich ihm auf die Schulter und versprach ihm, das alles wieder gut werden würde. Auch wenn er aussah, als würde er das bezweifeln lächelte er nur und begleitete mich zum Aufzug. Ich sagte ihm noch, dass ich glücklich darüber war seine beste Freundin zu sein und versprach ihm ihm immer bei seinen Problemen zur Seite zu stehen, so wie er es bei mir immer tat. Er sagte dazu nur grinsend:
»Wer wären wir, wenn gerade wir unsere Probleme nicht teilen würden wie Komplizen?«

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Trouble | [Escape 2] SunDiegoXJuliensblogWo Geschichten leben. Entdecke jetzt