Cardi [18]

79 4 1
                                    

Der neue Fall

»Was guckst du so ernst?« fragte ich irritiert und griff nach dem Popcorn in der Schüssel. Im Fernsehen lief einer meiner Lieblingsserien, The Blacklist. Dima hatte sie mir empfohlen und ich war wirklich überzeugt von ihr. Juri hingegen wirkte neben mir abwesend. Er tippte durchgängig an seinem Handy herum und sah aus, als müsste er dabei die Nationale Sicherheit bewahren. Ich zog verständnislos meine Kuscheldecke zurecht und wartete auf eine Antwort, die ich jedoch nicht bekam. Mein Gegenüber war vollends in das Display vertieft.
»Juri!« rief ich lauter und erlangte seine Aufmerksamkeit binnen Sekunden. Er sah mich irritiert an und fragte:
»Was denn?«
»Ist irgendwas passiert?« wollte ich wissen, doch er winkte nur mit einem kurzen Kopfschütteln ab. So kannte ich ihn überhaupt nicht. Unter normalen Umständen sprach er immer mit mir über die Serie oder sah sich zumindest die Folgen an.

»Hast du einen Fall? Musst du zur Arbeit?« fragte ich weiter und rutschte ein bisschen näher zu ihm. Seufzend packte er sein Handy zur Seite und antwortete:
»Ich arbeite in einem neuen Programm, ja. Es kann sein, dass ich gleich nach Brooklyn muss.«
»Aber ich dachte, die Homeland Außenstelle wäre in Manhattan?« gab ich irritiert zu. Mein Gegenüber schüttelte wieder nur den Kopf.
»Das ist nicht für Homeland. Mehr darf ich dir darüber wirklich nicht erzählen, Cardi. Tut mir leid. Das ist zu deiner eigenen Sicherheit.«
Ich seufzte und sah wieder zum Fernsehen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner und hörte meinen Freund sagen:
»Ich habe dir doch schon alles erzählt. Zumindest alles, was ich darf. Bitte, Cardi, sie nicht sauer. Okay?«
»Hm.« brummte ich. »Du könntest mir zumindest erklären, warum du nicht darüber reden darfst. So langsam kann ich Dima verstehen wenn er sich über Julien aufregt. Der sagt nämlich auch nichts.«
»Darf er auch nicht.« antwortete Juri schmunzelnd und seine wachen Augen brachten mich dazu, ebenfalls leicht zu lächeln.

»Siehst du? So schlimm ist es nicht.« antwortete er und griff in die Popcornschüssel, während ich wieder schmollte. Irgendwie fand ich es gemein in Unwissenheit gelassen zu werden. Juri bemerkte dies glücklicherweise ziemlich schnell. Ein Seufzen hallte durch das Wohnzimmer.
»Ich arbeite für die Regierung.«
»Ja, für Homeland, das weiß ich.«
»Nein.« sagte Juri ernst. »Für eine Spezialeinheit des FBI.«
»Du lügst.« gab ich schnippisch zurück. Seine Ausstrahlung verriet ihn, mittlerweile kannte ich ihn gut genug um seine Gesichtsausdrücke zu deuten. Er schüttelte leicht den Kopf, schwang sich auf und verschwand. Weil ich keine Lust auf Streit hatte, sagte ich nichts. Nach ein paar Sekunden kam er wieder zurück ins Wohnzimmer und hielt mir ein kleines schwarzes Mäppchen vor die Nase. Vorsichtig nahm ich es an mich, strich kurz darüber und öffnete es dann.

In der Mappe war eine Art Personalausweis und ein Goldenes Emblem. Auf dem Ausweis stand Juris Name und Geburtsdatum, seine Nationalität, seine Daten. Genauso wie sein Passbild mit stechenden blauen Augen, die zu leuchten schienen. Er sah auf dem Foto ungewohnt ernst aus. Misstrauisch sah ich mir die Etikette an und staunte nicht schlecht, als ich realisierte, das dies wohl eine Dienstmarke war. Eine Dienstmarke des FBI. Ich sah das glänzende etwas besorgt an und murmelte vorwurfsvoll:
»Warum hast du das nie erzählt?«
»Weil das ein Geheimnis ist. Das darfst du keiner Menschenseele erzählen okay?« bat er mich eindringlich. Ich nickte erstaunt und gab ihm die Marke zurück. Es war ungewohnt jemanden auf der Seite des Gesetzes in meiner Wohnung zu haben und es erklärte einige Dinge, an denen ich früher immer gezweifelt habe.
»Ich erzähle es niemandem.« versprach ich ernst. »Darf ich noch eine Frage stellen?«
»Nur eine.« antwortete Juri.
»Arbeitet Julien auch für das FBI?«

Juri strich langsam durch seine braunen Haare und zögerte offensichtlich viel zu lang. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Julien mit Agenten arbeitete. Er hasste Polizisten, er hasste Gesetze und vor allem hasste er Juri, welcher mich jetzt eindringlich ansah und mit leiser Stimme sagte:
»Das ist schwierig zu erklären, wahnsinnig schwierig.«
»Wieso?« fragte ich irritiert. »Arbeitet er für das FBI oder nicht?«
»Nein.«
»Was hat er dann mit dir zu tun?«
»Eine Frage, Belcalis.« brummte er mahnend und tippte wieder auf seinem Handy rum. Liebevoll nahm ich es ihm wieder auf der Hand, legte meine Finger dann an seine Wange und flüsterte:
»Ich muss es wissen. Dima und ich haben so viele Fragen, wir alle...«
»Es geht nicht.« murrte er und schob meine Hand eher unsanft weg. »Es ist sowohl Julien als auch mir gesetzlich verboten, darüber zu reden. Über unsere Verbindung, unsere Personen und die Spezialeinheit.«
Ich seufzte. Auch wenn ich es wollte konnte ich ihm nicht böse sein. Er machte nur seinen Job. Ich fragte leise:
»Kann ich zumindest Dima über das Informieren, was ich erfahren habe?«
»Von mir aus.« murmelte er. »Aber nur Dimitri und auch nur, weil ich glaube, dass er ein guter Kerl ist. Zumindest ein besserer als Julien. Was findet er nur an ihm?«

»Das ist eine gute Frage.« gab ich lachend zu und deckte meinen Freund wieder zu. »Ich glaube, die beiden werden sich immer wieder finden. Sie tun einander gut.«
Juri schnaubte verächtlich:
»Julien tut keinem gut.«
»Warum hasst ihr euch nur so?« fragte ich ein bisschen verletzt und stupste ihn von der Seite an. Er guckte grimmig auf den Fernseher.
»Er ist ein Mörder. Und er hat eine verdammt große Fresse, dafür, dass er sich eigentlich dankbar zeigen sollte.«
Seine Aussage ließ mich erschaudern. Es war schon viel zu lange her, dass Julien von irgendwem als Mörder bezeichnet wurde. In meinem Kopf war er das nicht. Er war ein liebevoller, fürsorglicher Mensch, der manchmal ein bisschen stur sein konnte. Aber in den Augen der Regierung war er - natürlich - ein Mörder. Juri sah mich schuldbewusst an und sagte:
»Es tut mir leid. So wollte ich das nicht ausdrücken.«
»Nein, du hast Recht.« antwortete ich kalt. »Aber wie viele Menschen hast du auf dem Gewissen, Juri?«
Als er den Mund öffnete, um zu antworten, klingelte sein Handy. Schnell ging er dran und meldete sich mit seinem Namen. Dann wurde sein Gesicht entsetzlich ernst.

Nach einem kurzen Gespräch stand er auf, drückte den Anruf weg und griff schnell nach seiner Jacke. Er erklärte mir kurz:
»Wir haben einen wichtigen Hinweis für einen Fall. Ich bin spätestens morgen früh wieder da, das verspreche ich dir.«
Ich spürte eine leichte Nervosität in mir, die sich zu purer Angst entwickelte. Wie sollte ich heute Nacht ohne ihn ein Auge zu machen? Wenn er auf den Straßen nach Mördern jagt, nach Drogenbossen und Vergewaltigern, saß ich Zuhause und bangte um ihn. Darum, dass er sich vielleicht verletzen und vielleicht sogar sterben könnte. Er drückte mir einen kurzen Kuss auf die Stirn und bat:
»Mach dir keine Sorgen, okay? Das ist nur Büroarbeit.«

###

Besagte 'Büroarbeit' dauerte gerade Mal ein paar Stunden, in denen ich natürlich nicht schlafen konnte. Immer wieder wälzte ich mich hin und her, sah jede halbe Stunde auf mein Handy und starrte in die dunkle Nacht hinaus. Irgendwie hatte ich ein eigenartiges Gefühl bei dem Gedanken an Juri und Julien. Sie mussten doch irgendwie zusammenarbeiten! Aber so wie mein Freund reagiert hatte, traute ich mich nicht mehr nach zu fragen. Im Gegenteil: Ich wollte das Thema einfach vergessen. Aber allein für Dima tat es mir leid. Zumindest er hatte die Wahrheit über Julien verdient, nachdem er wochenlang so sehr gelitten hatte.

Ich erinnerte mich daran, wie ich ihn vom Flughafen abgeholt hatte und er die ganze Fahrt über kein einziges Wort mit mir sprach. Egal wie sehr ich ihn anflehte, ihn verzweifelt bat eine Emotion zu zeigen: Er blieb stumm, und das blieb er einige Wochen lang. Er redete nicht mit Rebekah, nicht mit Felix und nicht mit mir. Bis dann plötzlich Alim auftauchte. Am Anfang dachte ich, Dima wäre in ihn verliebt, doch zwischen ihnen war bloß eine Freundschaft. Die Freundschaft, die Dima in diesen schweren Monaten gebrauchen konnte. Er kaufte diese Firma in Manhattan und zog dorthin, fokussierte sich einzig und allein auf seine Karriere. Felix sagte mir dort, es ginge Dima gut, doch ich wusste, dass er selbst nach all dieser Zeit versuchte, den Schmerz zu kompensieren. Ich hatte sogar das Gefühl gehabt, Dimitri wollte nicht mehr mit mir reden, weil er Angst vor meinen Fragen hatte. Er sprach in den zwei Jahren, in denen Julien fort war niemals über ihn. Er wollte ihn nur vergessen. Aber er konnte sich nicht gegen seine Gefühle wehren, als dieser wieder vor seiner Tür stand.

Ein Klappern in der Küche riss mich aus den Gedanken. Schnell sprang ich aus dem Bett und schlurfte daraufhin müde in die Küche. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte, dass es kurz vor zwei in der Nacht war. Juri drehte sich zu mir an und zog eher langsam seine Jacke aus. Ich trat näher an ihn und betrachtete fassungslos sein Gesicht. Er hatte eine riesige Wunde an der Schläfe und seine Wange war leicht angeschwollen. Als er seine Jacke aufhing bemerkte ich, dass er humpelte. Ich fragte entsetzt:
»Was zur Hölle ist passiert?«
»Der Täter hat mich ein bisschen zugerichtet. Aber...«
»Ein bisschen? Juri, wir müssen ins Krankenhaus!« rief ich schnell und wollte nach meinem Schlüssel greifen, doch er schüttelte den Kopf und zog ihn vor meiner Nase weg.
»Keine Sorge.« meinte er lächelnd. »Ich gehe jetzt duschen, dann sieht das alles nicht so schlimm aus.«
Ich konnte nicht gegen ihn anreden. Er küsste mich sanft auf die Lippen und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht in Richtung Badezimmer.

Schon wieder klingelte sein Handy.
»Nein!« Verbot ich ihm lautstark. »Wenn du da jetzt dran gehst, mache ich Schluss!«
Für einen Moment sah er mich erschrocken an, dann entschuldigend. Und schließlich kam er zurück und nahm sein Handy von der Anrichte, ehe er es sich ans Ohr hielt.
»Ja?«
Erst blickte er irritiert, erschrocken und letztlich wieder ernst. Dann legte er auf.
»Was ist?« fragte ich panisch. Er antwortete merkwürdig verstimmt auf meine Frage.

»Julien hatte einen Autounfall. Wir fahren wohl doch ins Krankenhaus.«

•°•°•°•°•°•

Trouble | [Escape 2] SunDiegoXJuliensblogWo Geschichten leben. Entdecke jetzt