Die Sonne schien an diesem Vormittag fast schon unnatürlich stark, wenn man bedachte, wie oft es in den letzten Tagen geregnet hatte. Kaum hatte Samantha die Türschwelle des Wohnheims überquert, hielt sie sich die Hand schützend vor das Gesicht, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und wäre am liebsten wieder umgekehrt. Am vorherigen Tag hatten Max und sie Samuel nicht auffinden können. Es war schon spät gewesen, vielleicht war der Hausmeister einfach schon gegangen. Doch um diese Uhrzeit müsste er eigentlich schon arbeiten. Sie machte eine Rechtsdrehung und schlug den Weg in Richtung Wartungsraum ein. Jetzt, um 11 Uhr, war noch so gut wie keiner der Studenten wach, demnach war der Campus fast leer. Die meisten gingen freitags auf Partys, und schliefen dann bis zum Mittag. Nur Alyssa saß auf einer Bank, und las ein dickes Buch, welches Sam selbst durch die Entfernung als Krieg und Frieden identifizieren konnte.
„Ah, hallo Sam", wurde sie von Samuel begrüßt, noch bevor sie ihn erreicht hatte. Er hatte, wie jeden Tag, einen blauen Overall an, der heute mit weißen Farbflecken bekleckert war. „Hi Samuel, wie geht's?" Der Angesprochene lächelte wie immer besonnen. „Ausgezeichnet, Samantha. Ich habe das Gefühl, dieser Tag könnte sich in eine interessante Richtung entwickeln." Bei jeder anderen Person hätte sie vielleicht gelacht, doch wenn Samuel etwas vorhersagte, stimmte es in den meisten Fällen. Sie hoffte nur, dass diese Entwicklung nichts mit Nathan zu tun hatte. „Ich... ich habe meinen Wohnheimschlüssel verloren", brachte sie leicht stotternd hervor. Auf einmal war es ihr unangenehm das zu zugeben. Sie fühlte sich, als wäre sie wieder sieben Jahre alt und hätte ihre Jacke irgendwo verloren. „Also nicht nur den Schlüssel für den Haupteingang, sondern auch meinen Zimmerschlüssel." Samuels freundliches Lächeln verblasste nicht.
So etwas passierte nicht zum ersten Mal, und war auch keineswegs schlimm. Die Schule erlaubte dank großzügiger Spenden der Prescott-Stiftung faux-pas wie diese, ohne dass es Konsequenzen für die Betroffenen nach sich zog. „Das ist kein Problem, Samantha, warte einen Moment." Der Hausmeister drehte sich um, und verschwand in dem Geräteraum hinter ihm. Sammy blickte sich wartend um. Sie war so unendlich erleichtert, ihr Zimmer betreten zu können. Doch das löste ihr Problem nur teilweise. Immerhin hatte Nathan immer noch ihren Schlüssel. Das Schloss konnte sie schlecht austauschen lassen. Irgendwie musste sie es verhindern, dass er herausfand zu welchem Zimmer der Schlüssel passte. Das war der einzige Weg. Nathan war keine Person, mit der man verhandeln konnte. Generell war er jemand, dem man nicht zu nahekommen sollte. „Das müssten die richtigen Schlüssel sein", verkündete Samuel, als er abermals nach draußen zu Sam trat. „Der Zimmerplan war etwas unübersichtlich, falls es doch nicht die richtigen sind, komm einfach wieder damit ich sie umtauschen kann." Sammy nickte verstehend. „Danke, du rettest mein Leben."
Wie recht sie damit hatte, konnte er nicht wissen. „Ach ja, was ich noch sagen wollte", fügte der Hausmeister hinzu als sich die Rothaarige bereits zum Gehen wandte, „sei vorsichtig. Die Schlüssel könnten möglicherweise von irgendwem gefunden worden sein, also melde bitte, falls dir etwas seltsam vorkommt." Sam nickte abermals, schenkte ihm ein dankbares Lächeln und machte sich dann auf den Rückweg zu ihrem Zimmer. Auch im Flur des Mädchenwohnheims begegnete sie niemandem. Das war vielleicht auch besser so, auf Victoria oder ihre Mitläuferinnen konnte sie gut verzichten. Als Sam ihre Tür erreichte, zitterten ihre Hände vor Aufregung. Was, wenn Nathan schon in ihrem Zimmer gewesen war? Wenn er dort auf sie wartete? Langsam und bedacht führte sie den Schlüssel zum passenden Loch und drehte ihn um, während sie gleichzeitig nach rechts blickte, um ihren Fluchtweg zu begutachten. Die Tür schwang geräuschlos auf.
Sammys Blick wanderte durch den Raum, doch sie konnte weder Nathan noch andere Hinweise darauf, dass jemand dort gewesen war, entdecken. Erleichtert atmete sie auf, und musste fast schon wegen diesen dummen Gedanken lachen. Ohne die Unordnung, welche sie hinterlassen hatte, zu beachten, legte sie sich auf ihr Bett und schloss die Augen. Sie brauchte einen ausgefeilten Plan, und zwar schnell. Es war Wochenende, und somit bekam sie Nathan so gut wie gar nicht zu Gesicht. Doch in der Schule... Vor Montag konnte sie nichts machen, und diese Unfähigkeit nervte sie. Samantha spielte ein Glücksspiel, in dem alles von Nathans Handlungen abhing. Schnell schüttelte sie den Kopf und öffnete ihre Augen. Sie musste dringend auf andere Gedanken kommen. Also stand sie auf, und verließ kurzerhand den Raum. Allerdings nicht ohne sie vorher eine Notiz zu schreiben, dass sie aufräumen musste. Falls der Prescott-Junge doch in ihr Zimmer gelangte, sollte es wenigstens aufgeräumt sein, grinste sie in Gedanken. Sie machte noch einen kurzen Abstecher zu Max, um sich das Buch von Kate zu holen, welches sie zuvor dort liegen gelassen hatte.
Danach lief sie zur Eingangstür, und betrat die große Rasenfläche vor den Wohnheimen. Samantha rümpfte die Nase, die Sonne schien nun noch unbarmherziger. Zum Glück gab es noch reichlich Schattenplätze, sonst wäre sie wohl wieder nach innen gegangen. Freudig, endlich ein paar ruhige Minuten zu haben, setzte sie sich hin und schlug das dünne Buch auf. Es war bereits als fertiges Skript geschrieben worden, weswegen man es unverändert für das Theaterstück benutzen konnte. Sammy las, während die Sonne immer höher wanderte, und die Schatten immer kleiner wurden. Langsam strömten auch die Studenten aus dem Wohnheim, bereit, etwas zu frühstücken. Sie war bereits beim zweiten Akt angekommen, als sich auf einmal ein Schatten vor ihr aufbaute. Überrascht hob sie den Kopf, und erblickte Courtney. „Hallo Samantha", wurde sie enthusiastisch von der Kurzhaarigen begrüßt. Ohne zu fragen setzte sie sich zu ihr.
„Was liest du denn da?", Courtney betrachtete skeptisch das Buch in Sams Händen. Sie hatte noch nie gerne gelesen. „Unsere kleine Stadt, das Skript für das nächste Theaterstück an unserer Schule." Ihre ungewollte Gesprächspartnerin nickte verstehend. „Ja, das kenne ich, ich gehe zu den Proben. Aber was ich eigentlich fragen wollte: Weißt du schon was du zur Party anziehst? Ich dachte ja an rot, weil das natürlich gut zum Thema passt, andererseits ist das ein bisschen zu langweilig, oder? Dieses leuchtende rot wäre natürlich ein echter Hingucker, aber weinrot finde ich fast schon schöner, und-" Samantha blickte sie verwirrt an, und unterbrach ihren Redefluss. „Party?" „Na die Vortexclub-Party. Du stehst doch auf der Gästeliste."
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Focused [Nathan Prescott FF]
FanfictionSamantha besuchte die Blackwell Academy in Arcadia Bay schon seit langem. Auch sie hatte von Nathan Prescott gehört, von ihm und den Geschichten, die sich um ihn rankten. Und das waren keine guten. Bis jetzt hatte sie seine Nähe gemieden. Bis jetzt.