Ich wusste es schon als ich heute Nachmittag durch unsere Tür trat. Vielleicht auch schon einige Zeit davor. Aber ich wusste es. Es kam - für mich jedenfalls - nicht völlig unerwartet.
Den ganzen Tag über sehe ich Freunde. Freundschaften.
Leute, die sich umarmen.
Und bei jeder zusätzlichen Freundschaft die ich sehe ist es, als würde mir jemand mit aller Kraft und höchstem Genuss ein Messer ins Herz rammen, sodass der Lebenssaft förmlich aus mir heraussprudelt. Die Quelle des Todes.
Ich stehe daneben, neben den Freunden und fühle mich leer. So leer.
Versteht mich nicht falsch, ich will kein Mitleid. Ich will nur nicht jemandem zur Last fallen. Mit meiner miesen Laune, wie ihr es rücksichtsvoll nennt.
Ich übertreibe, simuliere oder dramatisiere nicht - ich leide.
Du hast gesagt, du willst es nie wieder hören. Ich glaube, du hast es wirklich nicht begriffen. Du hast es nicht böse gemeint, aber du hast nicht gewusst, was du da redest.
Ich bin ein seelisch erschöpftes, ausgelaugtes Wesen, dessen Körper sich inzwischen nur noch durch Sauerstoff- und Kohlendioxidaustausch am Leben hält. Ohne jegliche Gefühle. Aus eigener Kraft.
Noch.
Nicht mehr lange.
Wenn ich mein Gefühl ansehen könnte, so wäre es, als ob ich blind bin wenn ich auf die Stelle schaue.
Ach ja, mein Entschluss.
Ich sitze in meinem Zimmer, draußen scheint strahlend die Sonne.
Schön?
Ich stehe von meinem Bett auf und gehe zwei, drei Schritte zum Vogelkäfig, in der meine vier Kanarienvögel auf ihrer Stange sitzen und fröhlich zwitschern. Ich weiß nicht wie lange ich davor stehe, aber irgendwann fällt mir wieder ein, was ich tun wollte. Langsam greife ich nach der Käfigtür und öffne sie. Das Fenster ist auch offen. Ich hoffe sie verstehen.
Sie tun es, denn nach kurzer Zeit erheben sie ihre Flügel, einer nach dem anderen und lassen sich mit raschen Schlägen aus dem geöffneten Fenster schweben.
Ich stelle mir vor, dass sie meine Seele mitgenommen haben, in die Freiheit. Und ich bin nur noch die Hülle, die alles zusammengehalten hat. Doch jetzt gibt es nichts mehr zusammenzuhalten. Ich bin frei.
Ich setze mich auf den Schreibtischstuhl und stütze den Kopf auf meinen linken Arm, das Gesicht in der Armbeuge vergraben. Die Tränen beflecken meinen Ärmel und lassen ihn durch die warme Feuchtigkeit taub werden.
Morgen wäre der Test gewesen, doch die salzige Flüssigkeit aus meinen Augen tropft auf den Stoff, den ich zu Papier hätte bringen sollen.
Ich hebe meinen Kopf minimal, der sich geschwollen und schmerzhaft anfühlt. Aus der Schublade ziehe ich ein kleines Päckchen, als Kaubonbontüte getarnt. Das Wasserglas steht schon bereit.
Ein Schluck, ein kleines weißes Plättchen.
Ein weiterer Schluck, ein weiteres kleines Plättchen.
Bis zum letzten Schluck, dem das letzte kleine weiße Plättchen folgt.
Den Kopf stütze ich wieder in die Armbeuge, diesmal in die rechte.
Ein Lächeln schleicht sich auf meine fast tauben Lippen, als ich an meine Kanarienvögel denke, die mich mit sich genommen haben. Und auch du wirst es nie wieder von mir hören, wenn ich dir sage, wie sich alles verhält. Du wolltest die Wahrheit nicht.
Das letzte was ich höre ist die Sirene eines Krankenwagens, den wohl irgendjemand gerufen hatte, doch für mich war mit Sicherheit alles zu spät.
Und jetzt frage ich dich: Hast du mich wirklich gekannt?
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Lost
PoetryJust hold the people you love. Never let them go. ☆★☆ Was wenn du dich verlierst? Wenn andere dich verlieren? ♧♣♧ Deutsche und englische Geschichten und Gedichte über die Welt der Gedanken. ♡♥♡ Cover by CarmenReuland