Kapitel 1

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Manchmal kommt es mir so vor, als würde das Leben an einem vorbeirasen und genau bei den schlechten Momenten stehen bleiben.

Wieso musste das auch ausgerechnet mir passieren?
Wieso habe ich die Zeit mit ihm nicht so sehr geschätzt, wie ich es hätte tun sollen?
Was habe ich der Welt getan und vor allen Dingen: was habe ich ihm getan?

Ich dachte jahrelang, der Spruch 'Man weiß erst, was man hatte, wenn man es verliert' sei nur irgendein typischer Satz von Eltern, damit Kinder dankbarer werden.
Doch es fiel alles auf mich ein und diesen Satz nicht zu Herzen genommen zu haben, bekam mein größter Fehler.

Ein Fehler, den ich jeden Tag meines Lebens aufs Neue bereute.
Ein Fehler, der mich jeden Tag verfolgte, bis in meine Träume.

Warum habe ich es auch nie kommen sehen, dass das passiert?

War es, dass er mir versprochen hatte, auf ewig bei mir zu bleiben?

War er nicht derjenige, der mir noch ein Tag vorher gesagt hatte, er könne nicht ohne mich leben?

Dieser Satz bekam eine Woche lang mein einziger Halt, aber ich merkte schnell, dass es nur leere Worte waren aus seinem perfekten Mund.

Dabei kannte ich ihn doch so gut und wir waren immer ehrlich zueinander. Oder waren wir das nicht? War alles nur ein Spiel seinerseits?

Ein Spiel, welches mir mein ganzes Herz gekostet hat.

Ich dachte die ganze Zeit, es seien normale freundschaftliche Gefühle gewesen, aber es war so viel mehr.

Jeden Tag machte ich mir Vorwürfe, so naiv gewesen zu sein. Naivität, die mir nie wieder zum Verhängnis wurde, denn ich habe aus meinen Fehlern gelernt.

War es mein Fehler, je zu ihm gegangen zu sein, als er neu in meine Klasse kam und ganz alleine auf dem Schulhof stand, weil niemand aufgrund seines Aussehens mit ihm reden wollte?

Sein Aussehen, welches ich seit Tag eins bewunderte. Nach all der Zeit blieb er sich selber Treu. Bis heute noch.

Er liebte die Dunkelheit und kleidete sich dementsprechend.
Auf unserer Schule war niemand komplett dunkel gekleidet, und durch seinen einschüchternen Blick wagte es auch niemand, ihn gar anzusehen.

Aber irgendetwas faszinierte mich an ihm und ich konnte nicht anders, als mit ihm zu reden.

Der schönste Fehler meines Lebens.

Einen Fehler, den ich nicht bereute, obwohl ich es wahrscheinlich tun sollte, doch dafür war die Zeit mit ihm zu wunderschön. Alles fühlte sich so richtig mit ihm an.

Jeder Tag ohne ihn war für mich damals ein langweiliger Tag. Für mich war dieser Tag nicht vollkommen.

Wie sehr ich mir wünschte, morgens aufzustehen und zu wissen, dass ich ihn wieder sehe. Als wäre alles genau wie damals. Doch es wird nie wieder so sein, die Zeiten sind für immer und ewig vorbei und alleine dieser Gedanke raubte mir zahlreiche Nächte.

Eine Stimme, die mich mit Fragen bombardiert, welche mich für den Verlust an ihn verantwortlich machen, spricht, ja schreit mich fast an.

Ich werde diese Stimme einfach nicht los, auch wenn ich meine Ohren schließe oder Musik höre.

Musik ist meine einzige Kraft, obwohl sie mich gleichzeitig so kraftlos macht.
Kraftlos wegen ihm.

Sie ist das einzige, was mich noch mit ihm verbindet.
Ich bin erbärmlich, doch ich kann einfach nicht aufhören, seiner Stimme zuzuhören.

Seine Stimme bringt mich zurück in meine Vergangenheit und lässt mich wieder wie Zuhause fühlen.

Jeden Abend höre ich seine Lieder und reiße mein Herz immer weiter auseinander. Ich bin mir nicht Mal sicher, ob das überhaupt noch geht, aber der Schmerz in meiner Brust beweist, dass immernoch ein Teil meines Herzens für ihn schlägt.

Es gibt Abende, da bin ich so erschöpft von meinen Gefühlen, dass nicht einmal eine Träne noch fällt. Mein Körper ist taub und wünscht sich nichts seelischer als meinem Verstand zu entfliehen.

Der Tod war dabei nie eine Option für mich. Ich war bereit, all den Schmerz zu fühlen, nur für ihn.

Die Person, die mich so zerstörte, ist immernoch die, die ich am meisten auf dieser Welt liebe und mich am Leben hält. Obwohl ich weiß, dass wir uns nie wieder sehen werden.

Wenn ich morgens aus dem Bett steige und meinen roten, verheulten Augen im Spiegel betrachte, fragte ich mich, was aus mir geworden ist.

Damals war ich bekannt dafür, immer nur zu Lächeln und für jeden ein offenes Ohr zu haben. Niemand wagte es, schlecht von mir zu reden, da jeder wusste, dass ich nur das Beste für jeden wollte.
Das war auch einer der Gründe, warum ich zu ihm gegangen bin.

Ich konnte noch nie mitansehen, wie jemand alleine oder einsam war.

Und jetzt war ich derjenige, der einsam war. Ich hatte immernoch Freunde in meiner Stadt, aber das Gefühl der Einsamkeit verbleibt bis heute.

Meine Freunde wussten nicht, wie sehr mich sein Verlust nach all der Zeit noch mitnahm, da ich ihnen versicherte, dass ich mit dem Kapitel abgeschlossen habe.

Das Kapitel kann ich aber nicht abschließen, weil es für mich unendlich ist. Ich kann und will ihn nicht vergessen, obwohl es besser für mich wäre.

Der einzige, der fast alles von mir wusste, war Jeongin. Er ist ebenfalls mein einziger Internetfreund.

Er wohnte weit weg von mir in Südkorea, jedoch war ein Gespräch mit ihm das einzige, was mich noch zum Lächeln bringen kann.

Bei meinen Freunden hier in Australien lächelte ich oft, aber niemals ist es ein echtes Lächeln. Jeongin aber behandelt mich, obwohl er so viel über mich weiß, ganz normal und dafür schätze ich ihn so. Und dieses Mal weiß ich zum Glück, wie das geht.

Jeongin war auch derjenige, der mich auf die Idee gebracht hat, nach Südkorea zu fliegen, um ihn noch einmal zu sehen.

Ich wägte mehrere Wochen ab, ob dies eine gute Idee sei, weil mich viele Zweifel plagten.

Was würde passieren, wenn ich ihn wiedersehe?

Würde er mich so gut es geht ignorieren?

Würde er mich überhaupt noch erkennen?

Würde er mich abstoßend finden? War das vielleicht sogar der Grund, weshalb er endgültig aus meinem Leben trat und damit alles in Scherben hinterließ?

Trotz meiner zahlreichen Ängsten, zog mich die Vorstellung, ihn noch einmal zu sehen, magisch an und mein Herz gewann gegen meinen Kopf. Ich musste es tun, auch wenn danach vielleicht alles schlimmer wird.

Könnte man meinen Fehler überhaupt noch schlimmer machen?

Meine Finger zitterten und mein Herz wollte sich gar nicht mehr beruhigen, als ich mein Flugticket nach Südkorea buchte und Jeongin Bescheid gab.

Ich war so froh, dass ich während der ganzen Zeit bei ihm wohnen konnte. Das würde mir wenigstens ein bisschen Sicherheit geben, die ich definitiv brauchte.

Eine Sicherheit, die ich damals nur von ihm bekommen konnte.

Hätte ich doch damals nur schon gewusst, was ich damit auslösen würde..

'I suppose it may be God's way of telling us to love people while they're here, because tomorrow they may be gone. I guess that's a pretty sorry answer, but I'm afraid it's the only one I've got.'

~ Wish You Well by David Baldacci ~

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