Kapitel 19

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Auf ihrem kalten Heimweg hatte Adelaide über den Gedanken nachgedacht, dass Gilbert gehen würde. 

Es ist nicht so, dass sie wütend war, weil sie nicht glaubte, dass sie das Recht hatte, wütend auf ihn zu sein. Sie hatte nur das Gefühl, dass etwas zwischen ihnen, das zu etwas Schönem werden könnte, auseinanderreisen würde, wenn er ging. Wie immer war es egal, weil ihre Meinung nie wirklich zählt. Alles war immer ausserhalb ihrer Kontrolle und es gab absolut nichts, was sie dagegen tun könnte.

Adelaide wusste, dass ihre Fürsorge für Gilbert als blosse Blume begonnen und sich nun zu einem üppigen Garten entwickelt hatte. Er hatte ihre Augen geöffnet und ihr gezeigt, welche Wunder die Welt in solch schrecklichen Zeiten bringen konnte. Nichts konnte mit der Freude, die Adelaide empfand, mithalten, als sie nur einen Blick auf den Jungen mit den lockigen Haaren erhaschte.

Während sie bei dem Gedanken an Gilbert lächelte, trugen Adelaides schneebedeckte Stiefel sie die letzte Stufe ihre Veranda hinauf bis zur Haustür. Sie warf einen letzten Blick auf die schöne untergehende Sonne. Sie lächelte und ergriff die Türklinke.

Adelaides Lächeln verschwand, als die Tür knarrte, ohne dass sie viel druck dagegen ausübte. Die Tür war offen gewessen, aber warum? Ihre Mutter war klug genug, um nicht versehentlich die Haustür offen zu lassen, besonders abends. Adelaides Puls beschleunigte sich, als sie die Tür ganz öffnete. Das Haus war dunkel, also nahm Adelaide schnell eine Kerze vom Tisch und zündete sie hastig an.

"Mama?" Rief Adelaide mit zittriger Stimme. Alice war nirgends zu sehen. Auf dem Weg zur Treppe erstarrte Adelaide, als sie die kleinen weissen Pillen bemerkte, die über die gesamte Treppe verteilt worden waren. Eine leise Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, sie solle dort anhalten und weglaufen, um Hilfe zu holen, aber Adelaides Sturheit war stärker. Sie griff nach der Tablettenflasche, die kopfüber auf der untersten Stufe stand. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Flasche kaum halten konnte. Sie schaute sich das Kleingedruckte genauer an und blinzelte, um die Worte zu lesen.

ALICE MONROE ANTIDEPRESSIVA
EINMAL PRO TAG EINNEHMEN

Adelaide drückte die Tablettenflasche stark zusammen, bevor sie sie auf den Boden fallen liess. Wie konnte sie nicht alle Zeichen bemerken? Es gab so viele Anzeichen dafür, dass Alice depressiv war, aber Adelaide war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um es zu merken.

"Mama?" Rief Adelaide erneut. Sie lief langsam die Treppe hinauf und kümmerte sich nicht darum, dass die Tabletten unter ihren Stiefeln zerdrückt wurden. Die Kerze war die einzige Lichtquelle, und bei der Geschwindigkeit, mit der ihre Hand zitterte, würde sie wahrscheinlich bald erlöschen. 

Adelaide sprang auf, als sie einen dumpfen Schlag aus dem weitesten entfernten Raum hörte. Alices Zimmer. Sie hätte noch einmal nach ihrer Mutter gerufen, aber die Angst nahm ihr die Stimme. Sie zwang ihre gelähmten Glieder, sich auf die geschlossene Tür am Ende des dunklen Flurs zu bewegen. Unter der Tür war Licht zu sehen, was Adelaide Hoffnung gab.

Es erforderte fast ihren ganzen Mut, diese Tür zu öffnen, und sie wünschte sich fast, sie hätte es nicht getan. So viele Dinge würden in so kurzer Zeit schief gehen.

Adelaide öffnete die Tür und keuchte hörbar. Alice King oder Monroe, wie auch immer man sie mag, sass auf dem dunklen Holzboden, mehr von den Pillen waren um sie herum verstreut. Einige Kerzen waren im Raum angezündet, wodurch Adelaide sehen konnte, was sie in der Hand hielt. Eine glänzende Waffe hielt Alice fest und richtete sie auf sich selbst. Ein Stück Papier lag ebenfalls neben ihr auf dem Boden, aber Adelaide konnte die darauf gekritzelten Wörter nicht entziffern.

"Mama, was zur Hölle machst du?" Schrie Adelaide. Alice schüttelte den Kopf und bemerkte kaum, dass sie da war. Die Tränen liefen den beiden über die Gesichter.

"Es tut mir so leid, Schatz, ich wollte nie, dass es so ist. Ich wollte nie, dass du verletzt wirst, verdammt, ich wollte nie, dass irgendwer verletzt wird." Alice schwang die Waffe hin und her während sie sprach. Adelaide trat einen Schritt zurück, da sie nicht wusste, wie gefährlich ihre Mutter zu diesem Zeitpunkt werden könnte.

"Was meinst du damit, du wolltest nie jemanden verletzen? Wen hast du verletzt, Mama?" Adelaide spürte, wie ihr Körper erstarrte, als sie über den Gedanken nachdachte.

"Er hat dich verletzt, Baby, ich konnte nicht zulassen , dass ein Monster wie er jemand anderem Schaden zufügt." Adelaide bedeckte ihren Mund, als weitere Tränen flossen. Sie wusste, dass sie ihre Mutter zu einem Ort bringen müsste, an dem man ihr helfen konnte.

"Mama, bitte gib mir die Waffe, wir können später darüber reden." Adelaide trat einen Schritt näher an ihre Mutter heran, sprang jedoch zurück, als Alice drohend mit der Waffe auf ihre eigene Tochter zielte.

"Was machst du? Mama, bitte hör auf." Weinte Adelaide und streckte ihre Hände aus. Adelaides Schrei hallte wider, als ihre Mutter einen Warnschuss auf eine Vase schoss, die auf dem Nachttisch stand.

Alice richtete die Waffe wieder auf sich und sagte ihre letzten Worte.

"Es tut mir leid, dass es so sein musste. Ich liebe dich, Adelaide." Und der letzte Schuss ertönte. Adelaide starrte geschockt auf die Szene vor ihr, bevor sie schnell nach dem Stück Papier neben ihrer Mutter griff. Sie stopfte die Notiz in ihren Stiefel, lehnte sich gegen die Wand und liess ihre Gefühle raus. Sie liess jedes einzelne schlechte Gefühl, dass sie in sich hineingefressen hatte raus. Sie schrie wie nie zu vor in ihrem leben.

Die Gillis waren schnell herbeigeeilt, als sie die Schüsse hörten. Rubys Vater war derjenige, der das Haus betrat, da die Tür weit offen stand. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis er den Schrei hörte und den Raum betrat, in dem Adelaide an die Wand gelehnt sass und auf die blutrünstige Szene vor ihr starrte. Es konnten keine Tränen mehr fliessen - ihre Augen waren schon komplett trocken. Sie bemerkte nicht einmal den Mann, der den Raum betreten hatte und leise nach Luft schnappte. Er nahm das junge Mädchen in seine Arme, bevor er die Treppen und nach draussen rannte. Bis dahin hatten sich die Stadtbewohner versammelt, und die Polizei war auf dem Weg. Er stellte Adelaide vorsichtig auf der Veranda ab.

Niemand wagte es, ihr irgendwelche Fragen zu stellen, mit ihrem emotionslosen Ausdruck und den Blutspritzer auf ihrem Gesicht.

Es war nur ein paar Augenblicke später, als die Polizisten eintrafen. Sie wurde kurz befragt und gab so gut es ging antworten. Adelaide erzählte ihnen, dass sie zu ihrer Mutter gegangen war, und das sie gesagt hatte, es tut ihr leid und dann erschoss sie sich. Adelaide sagte, dass sie keine Ahnung von den Pillen und der depressiven Störung hatte. Sie erzählte ihnen nichts von der Notiz, denn sie wollte nicht, dass George Monroes Tod damit zu tun hatte. Sie wollte nicht, dass einige der letzten Worte ihrer Mutter von der Polizei untersucht und ausgenutzt wurden.

Gilbert tauchte schliesslich auf. Er konnte Adelaide nicht zum sprechen bringen, niemand ausser einem Polizist konnte es. Alles was sie tat, war in seinen Armen zu sein und zu hoffen, dass alles nur ein Traum war. Ihr Kopf schien nicht richtig zu funktionieren, als hätte ihn jemand verändert, ohne dass sie es wusste.

Eines war ihr völlig klar. Sie und Gilbert hatten denselben Gedanken: Was würde jetzt passieren? Wie würde sich Adelaide von so etwas Tragischem je erholen können?

wondrous (Gilbert Blythe fanfic) german translationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt