Kapitel 21

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Sehr geehrte Adelaide,

Ich erinnere mich an den Tag, an dem du geboren wurdest, als wäre es gestern gewesen. Dein Vater und ich waren überglücklich herauszufinden, dass du ein Mädchen bist. Keiner von uns hätte mit einem Jungen fertig werden können. Das Lächeln auf dem Gesicht deines Vaters, als er dich zum ersten Mal in den Armen hielt, war unvergesslich. Dieser Tag war einer der glücklichsten Tage, die ich erleben durfte. Ich hatte einen erstaunlichen, liebevollen Ehemann, und unser kleines Mädchen war gerade auf die Welt gekommen. Das Leben kann manchmal gut sein.

Nach seinem Tod ging es für uns ziemlich schnell bergab, oder? Es ist alles meine Schuld, Adelaide. Ich habe ein paar falsche Entscheidungen getroffen, die zu schlimmeren Dingen geführt haben, und es tut mir unglaublich leid. Ich möchte nie, dass du dir die Schuld gibst, denn es ist nicht deine. George war ein schrecklicher Mann, und ich bete, dass du in deinem Leben niemals wieder auf eine Person wie ihn triffst. Lass dich niemals von jemandem herumschubsen und folge deinem Herzen, nicht deinem Gehirn. Meistens ist das Herz eines Menschen viel besser als sein Verstand. Tu was du für richtig hälst, Adelaide

Ich hoffe wirklich, dass du damit eines Tages klar kommen wirst. Du bist ein starkes, schönes und mutiges Mädchen das es anderen nicht erlaubt, sich zwischen ihre Ziele zu stellen. du hast ein unvorstellbar grosses Leben vor dir. Die Zeiten können schlecht werden, vertrau mir, die Sonne kommt immer nach dem Regen. Adelaide, ich liebe dich so sehr, erinnere dich immer daran. Es tut mir leid.

Es gibt nur noch eine Sache, die du wissen solltest. Ich habe es dir nie erzählt, weil ich wusste, es würde die Beziehung zwischen mir und deinem Vater belasten-

Adelaide hörte schnell auf zu lesen und stopfte das dünne Stück Notizpapier unter ihr Kissen, als sie hörte, wie jemand an die Tür öffnete. Ruby fragte Adelaide, ob sie eintreten dürfe, bevor sie die Tür hinter sich schloss und sich auf das Bett neben ihr setzte. Adelaide hatte das Angebot der Gillis angenommen, in ihrem Gästezimmer zu bleiben, während sich die Dinge aufklärten. Sie hatte diesen Raum seit drei Tagen nicht mehr verlassen, ausser um kurz ins Badezimmer zu gehen. Anne und Gilbert hatten beide versucht, sie zu besuchen und mit ihr zu reden, aber sie erhielten nur wenige Worte von ihr.

"Ich habe das einmal in einem Buch gelesen, und es ist mir letztens wieder eingefallen. Anscheinend hilft es, wenn jemand trauert und nicht darüber reden will, wenn andere über ihre eigenen Probleme reden", sagte Ruby, die Adelaide während dem reden nicht ansah. Adelaide sah die zierliche Blondine mit unsicheren Augen an und lachte fast. Seit wann liest Ruby?

"...und ich scheine ziemlich viele Probleme zu haben. Wenn es dir nichts ausmacht, dachte ich, könnten wir es ausprobieren." Ruby warf dem älteren Mädchen einen Blick zu. Sie war extrem blass und hatte grosse dunkle Ringe unter den Augen. Sie hatte wahrscheinlich nicht geschlafen.

"Okay, red weiter." Adelaide schenkte Ruby ein halbes Lächeln, Ruby lächelte und legte ihre Hände zusammen.

Ruby sprach dann mindestens zwei Stunden lang über belanglose Dinge. Sie sprach darüber, wie sie in jemanden verliebt sein könnte, aber versicherte Adelaide, dass es nicht Gilbert war. Sie plapperte auch darüber, wie schrecklich sie in Literatur war. Egal wie oft Mr. Phillips über ein Thema sprach, sie verstand es einfach nicht.

Adelaide nickte hin und wieder und äusserte ihre Meinung. Wenn sie ehrlich war, half es, sie von ihren Problemen abzulenken. Ruby war die Art von Mensch, die dich immer aufheitern konnte. Sie war sehr klug, hatte aber keine Ahnung, wie sie das zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Adelaide mochte Ruby, obwohl sie sie am Anfang nicht wirklich ausstehen konnte.

Als Ruby ihr Zimmer verlässt, um mit ihrer Familie zu Abend zu essen, konnte Adelaide nicht anders, als zum Fenster zu gehen und auf das Haus zu starren, das so viel Schrecken in sich birgt. Das grosse Backsteingebäude, an dem Efeu war, sah normal aus, sogar schön. Die Blutflecken auf dem Boden würden einen umstimmen. Wenn Wände sprechen könnten, hätten die in diesem Haus definitiv zu sagen.

Adelaide hatte sich noch nicht wirklich mit dem beschäftigt, was bisher passiert war. Es war, als ob sie sich in einer anderen Dimension befände und nicht wirklich sehen konnte, was los war. Die Gerüchte in der Stadt genügten, um ihr zu sagen, dass es bittere Realität war.

Der Brief gab ihr noch zusätzlich einen Schock. Sie hatte ihn jetzt mindestens dreissig Mal gelesen, immer und immer wieder, bis sie die Worte schliesslich verarbeitet hatte. Sie nahm ihn von unter dem weichen Kissen hervor und begann dort weiterzulesen, wo sie aufgehört hatte.

Es gibt nur noch eine Sache, die du wissen solltest. Ich habe es dir nie erzählt, weil ich wusste, es würde die Beziehung zwischen mir und deinem Vater belasten. Bevor ich deinen Vater überhaupt getroffen hatte, gab es noch einen anderen Mann. Er war nett zu mir, was ich zuvor noch nie erlebt hatte. Wir hatten etwas für ein paar Monate, bis ich herausgefunden habe, dass er auch zu vielen anderen Mädchen der Stadt nett war. Ich habe es aus offensichtlichen Gründen abgebrochen und habe am nächsten Tag festgestellt, dass ich schwanger war. Ich hätte es ihm nicht sagen sollen, aber ich war egoistisch und dachte, er würde bei mir bleiben, nur mir. Natürlich tat er dies nicht. Er verlangte, dass das Baby, sobald es geboren war, sein eigenes sein würde. Ich habe dies wiederholt bestritten, aber er war reich und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ich habe deinen Vater ein paar deprimierenden Jahren getroffen und er gab mir wieder einen Grund, wieder zu leben. Du gabst mir einen Grund, wieder zu leben, Adelaide. Ich habe es ihm nie gesagt, nur weil ich wusste, wie er reagieren würde. Ich sage es dir, weil ich weiss, dass du niemanden mehr hast, und vielleicht könnte dein älterer Bruder dir irgendwie die Kindheit geben, die du verdienst. Zuletzt hörte ich, dass sein Vater verstorben war (Gott sei dank) und er in St. Pierre lebte. Ich hoffe, du kannst ihn finden, bitte sag ihm, dass es mir leid tut. Ich liebe dich Adelaide. Bleib stark für mich.

Das Papier war so abgenutzt, dass es an den Rändern zu reissen begann. Es gab Tränen flecken und Flecken von getrocknetem Blut, aber Adelaide kümmerte sich nicht darum, als sie den Brief an die Brust zog und umarmte, als wäre es ihre Mutter.

Sie musste ihren Bruder finden, um Alice willen.

wondrous (Gilbert Blythe fanfic) german translationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt