2. Das Mädchen im Wald

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Varuna konnte durch ihre Tränen kaum sehen. Ziellos lief sie durch den Wald und wäre fast in eines der Moorlöcher gestolpert, wenn sie nicht im letzten Moment von ein Paar kräftigen Armen aufgefangen worden wäre.
Erstaunt blickte sie in die tellergroßen Augen eines alten Steintrolls.

"Warum weint Ihr denn, schönes Fräulein?", fragte er sie.

Und da sie sonst niemanden hatte, klagte Varuna ihm ihr Leid.

***

Dajana stellte den Korb auf dem feuchten Waldboden ab und streckte sich.
Der Rücken tat ihr höllisch weh. Doch der Korb war erst zur Hälfte gefüllt, sie hatte also noch viel zu tun.
Vorsichtig sah sie sich um.

Wenn ich jetzt einfach loslaufen würde..

Aber sie wusste, sie hätte keine Chance. Das hatte schon beim letzten Mal nicht funktioniert und auf die Schläge danach konnte sie auch gut verzichten.
Außerdem würde sie das andere Mädchen im Stich lassen.

Wie hatte sie nur in diese Lage kommen können? Dajana hatte sich schon so darauf gefreut, ihre Eltern wiederzusehen!
Sie war im Flugzeug eingeschlafen - und aufgewacht war sie hier - in Namra.

Als sie die Augen aufgemacht hatte, hatte sie direkt in das grauenhafte Gesicht der alten Hexe gesehen. Seitdem war sie ihre Gefangene.

Und noch immer wusste sie nicht, warum sie eigentlich hier war.
Die Alte gab ihr auf diese Frage einfach keine Antwort.

Und das andere Mädchen? Dajana hatte sie nur einmal kurz gesehen, seit sie vor ein paar Tagen hier angekommen war. Jünger als sie, mit einem herzförmigen Gesicht und rostroten, glatten Haaren.
Und sie war sich beinahe sicher, dass sie ebenfalls ein Mensch war.

Seufzend schüttelte Dajana ihre Gedanken ab. Sie musste den Korb vollbekommen, sonst würde sie wieder hungrig ins Bett geschickt werden.

Gerade als sie sich wieder bückte, um die nächsten Pilze zu schneiden, hörte sie etwas.
Es klang wie ein kleines Glöckchen.
Neugierig geworden, ließ sie ihr Messer liegen und folgte dem Geräusch.

***

Das Unwetter in der vergangenen Nacht war ungewöhnlich heftig gewesen.
Am Morgen war der Distelbauer vom benachbarten Hof bei den Lilientals erschienen und hatte die Familie um Hilfe gebeten.
Ein Blitz hatte auf seiner Weide eingeschlagen und seine Ziegen so erschreckt, dass sie in den Wald geflüchtet waren.

Richard, Argos, Arman und Timon hatten sich sofort an der Suche nach der vermissten Herde beteiligt und kurz darauf fast alle Tiere wieder eingefangen.

Nun verfolgte Argos schon seit zwei Stunden die letzte Ziege und war dabei immer tiefer in den nördlichen Wald gelangt.

Jedes mal, wenn er das feine Glöckchen um ihren Hals hörte, dachte er sich, dass er das Tier diesmal gefunden hatte, doch es war ihm immer wieder entwischt.
Er konnte das Klingeln wieder hören. Fest entschlossen, die Ziege diesmal zu erwischen, folgte er dem Ton.

***

Eine kleine Ziege!
Fasziniert streckte Dajana eine Hand nach ihr aus. Ohne Scheu kam das Tierchen näher.
"Wo kommst du denn her?", murmelte sie, während sie es streichelte.
Das zutrauliche Blöken und die Wärme ihres Körpers gaben Dajana etwas Trost in ihrer aussichtslosen Lage.

Sie war so mit dem Zicklein beschäftigt, dass sie den jungen Mann, der dem Tier gefolgt war erst bemerkte, als er zwischen den Bäumen hervortrat.

✓ Die Sieben Siegel // Armans GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt