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Wütend schlägt Liv die Haustür hinter sich zu und beginnt zu laufen. Sie hört noch, dass Marco ihr hinterherruft, dass sie stehenbleiben soll, aber sie reagiert nicht auf ihn. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, als sie zu ihrem langjährigen Freund in eine fremde Stadt gezogen ist. Sie läuft und läuft, und als sie wieder zu sich kommt, erkennt sie die Gegend nicht mehr, in der sie ist. Es sieht wie ein Park aus, hinter dem sich ein dunkler Wald erstreckt. "Scheisse", murmelt sie, lässt sich auf eine Bank sinken und sieht auf ihr Handy, das natürlich keinen Empfang hat. Liv zieht ihre Beine an sich, umschlingt die Knie mit ihren Armen und legt ihren Kopf darauf ab. Wie in Zeitlupe läuft das eben Gesehene wieder und wieder in ihren Gedanken ab - Marco, der in ihrem gemeinsamen Bett eine Blondine vögelt, die mehr Makeup aufgelegt hat, als sie in ihrem Leben bisher verbraucht hat. Tränen brennen hinter ihren geschlossenen Augen, doch sie weigert sich, sie zu weinen.  Warum wollte er, dass sie zu ihm zieht, warum hielt er so an ihrer Beziehung fest, als sie diese beenden wollte, nachdem er die Stelle in dieser Stadt angenommen hatte, weil sie keine Fernbeziehung wollte, warum ...? Ihre Gedanken stocken, als sie hinter sich eine Bewegung wahrnimmt. Liv dreht sich um, doch sie ist allein, fühlt sich aber beobachtet. Sie lässt ihren Blick über die Bäume wandern und steht auf. Langsam geht sie rückwärts von der Bank weg und bleibt stehen, als sie spürt, dass jemand hinter ihr ist, der eine irrsinnig intensive Aura hat. "Was machst du hier?", fragt eine dunkle Stimme, die ihr eine Gänsehaut über den Körper jagt.

"Ich frag dich nicht nochmal", knurrt Leon die Frau vor sich an - obwohl er sie am liebsten in seine Arme gezogen hätte. Er beobachtete sie schon länger, das erste Mal war sie ihm am Bahnhof aufgefallen, als ihn ihr Duft nach Pfirsich und Heu in die Nase gestochen war. Auch jetzt hat sich ihr Geruch um ihn gelegt, wie gern würde er jetzt seine Nase an ihrem Hals vergraben und ihn inhalieren - aber das muss warten. Erst musste er wissen, was sie hier zu suchen hatte, kilometerweit weg von der Wohnung, die sie mit diesem Mann teilt, der ihr Freund/Liebhaber oder was auch immer war, und der neben ihr noch andere Frauen hat.

Liv schluckt und dreht sich dann langsam um. Sie hebt ihren Blick und trifft auf ein Paar eisblaue Augen, die sie kalt mustern. Sein Kiefer mahlt und er zieht seine Augenbrauen fragend hoch. "Ich ...", Liv zögert kurz, doch dann strafft sie ihre Schultern. "Ich wüsste nicht, dass dich das etwas angeht", antwortet sie mit fester Stimme. "Nun, du befindest dich auf meinem Privatbesitz, ich denke das ist Grund genug, dir diese Frage zu stellen" - "Vielleicht solltest du dann einen Zaun ziehen, dann kommt nicht jeder herein", gibt sie zurück und er muss sich ein Schmunzeln verkneifen - sie lässt sich nicht einschüchtern, das gefällt ihm. Leon beugt sich zu ihr. "Siehst du das?", haucht er ihr ins Ohr, bemerkt die Gänsehaut, die ihr seine Nähe beschert und deutet dann nach rechts. Liv folgt der Richtung, in die seine Hand zeigt und erkennt einen Zaun in der Ferne. "Okay ... tut mir leid, aber mir war nicht bewusst, dass hier Privatgrund ist", meint sie dann leise. "Mhmm, sei froh, dass die Hunde noch nicht frei rumlaufen, das hätte böse enden können". Liv schaut ihn entsetzt an. "Aber irgendwo muss offen gewesen sein, ich bin definitiv nicht über einen Zaun geklettert oder hab mich unten durch gegraben", kommt jetzt ihr starker Willen wieder zum Vorschein. Kurz meint sie, ein Lächeln sei über sein Gesicht gehuscht, aber er sieht sie nach wie vor kalt an. "Okay, willst du mich verhaften lassen oder darf ich gehen?", seufzt sie und versucht, ihren Blick von seinen Augen zu lösen, doch sie scheitert kläglich. Er hält sie nur mit seinen kalten Iriden fest, doch sie fühlt sich trotzdem unglaublich wohl in seiner Nähe - ein Widerspruch, den sie sich nicht erklären kann. "Ich hab eine andere Idee", antwortet Leon, nimmt ihre Hand und zieht sie mit sich zu seinem Auto. "Was wird das?", sträubt sich Liv, als er ihr die Tür öffnet und sie in den Sitz drücken will. "Ich fahr dich heim und du erzählst mir ein bisschen von dir" - "Ich fahre nicht mit Fremden mit" - "Ich bin Leon DeBran", stellt er sich vor und setzt in Gedanken noch 'dein Gefährte und deine Ewigkeit' dazu. Abwartend sieht er sie an. "Olivia Roth" - "Olivia, freut mich dich kennenzulernen", lächelt er, nimmt ihre Hand und gibt ihr galant einen kurzen Kuss darauf. Verblüfft registriert sie den Stromschlag, der sie bei seiner Berührung durchfährt. "Darf ich dich jetzt heimfahren?" - "Ich kann nicht nach Hause", sagt sie leise und schaut zu Boden. "Wohin dann?" - "Keine Ahnung, ich hab nicht mal Geld dabei", flüstert sie und wird sich ihrer Lage langsam bewusst.

Leon sieht die Frau, die so verloren vor ihm steht, nachdenklich an. Eigentlich will er sie ja gar nicht gehen lassen - aber sie weiß nichts über ihre Bestimmung - sie ist zwar seine Mate, aber trotzdem ein Mensch, der zwar auch diese starke Bindung fühlt, aber sie nicht einordnen kann, zumindest nicht, bis ihr jemand diese erklärt. Sein innerer Wolf heult auf und sofort sind Linus und Malte, seine beiden Betas, in seinen Gedanken, doch er wimmelt sie ab und wendet sich wieder Olivia zu. "Gästezimmer?" - "Was?", fragt Liv verwirrt. "Ich biete dir eines meiner Gästezimmer an, Olivia". Immer noch irritiert sieht sie ihn lange an, doch dann schüttelt sie den Kopf. "Das kann ich nicht annehmen, Leon. Ich komm schon klar ... irgendwie" - "Ich werde dich nicht irgendwo absetzen, ohne zu wissen, dass es dir gut geht, Olivia", sagt er, jetzt wieder mit dieser kalten Dominanz in der Stimme, die sie erschauern lässt. "Ich kann ... du kannst doch nicht ..." - "Natürlich kann ich", lächelt er sie wieder an.

Liv mustert sein Gesicht, doch sie findet keine Antwort auf die Frage, die sie sich gerade stellt - was zum Teufel macht dieser schöne fremde Mann mit ihr? Warum fühlt sie sich bei ihm, als wäre sie endlich zuhause angekommen? Wieso reagiert ihr Körper so auf ihn?
"Olivia" - seine Stimme ist nur ein Hauch an ihrem Ohr, doch ihr stockt der Atem.

Leon kämpft mit sich, doch schließlich hebt er eine Hand und streicht ihr sanft über die Wange. Er sieht, wie sie hart schluckt, er hört ihr Herz wie wild schlagen und er muss sich wahnsinnig zurückhalten, um sie nicht gleich hier an Ort und Stelle zu nehmen und zu markieren. Doch er will ihr die Zeit geben, die sie braucht, um alles zu verstehen.

"Okay", flüstert Liv, schaut ihm wieder in die Augen und sieht darin nicht mehr Kälte, sondern ein loderndes Feuer, das er aber sofort wieder vor ihr versteckt. "Wow", murmelt sie fasziniert. "Steig ein!", lenkt Leon ab, wirft die Tür hinter ihr zu und sammelt sich, als er zur Fahrerseite geht und ebenfalls einsteigt. Schweigend fährt er die kurze Strecke zu seinem Haus und fährt in die Garage. Liv steigt schnell aus und schlüpft unter dem sich schließenden Garagentor wieder nach draußen, wo sie sich nach ein paar Schritten umdreht und überrascht das Gebäude ansieht, vor dem sie steht. Schmunzelnd kommt Leon zu ihr. "Willkommen in dei .... meinem bescheidenen Heim" - "Bescheiden? Das ist ... krass". Er bleibt kurz neben ihr stehen, nimmt dann ihre Hand und zieht sie zur Haustür. "Ich lebe hier nicht allein, Olivia, sondern mit Freunden. Es sind einige da, also nicht erschrecken über den wilden Haufen da drin". Er hat seinem Rudel über Mindlink schon Bescheid gegeben, dass ihre Luna bei ihm ist und er hofft, dass sie sich benehmen. "Wie viele?", fragt Liv. "Unterschiedlich, zur Zeit sind drei fest hier und grad im Moment sind sechs da drin, es können aber auch mal zwanzig oder mehr sein". Er bleibt vor der Tür stehen. "Bereit?" Liv nickt, immer noch überrumpelt von der Größe der Villa, vor der sie steht. Leon öffnet die Tür und Liv fühlt sich wie im Märchen. Sie steht in einer großen Halle, von der viele Türen abgehen und eine Treppe nach oben führt. Hinter einer Tür rechts von ihnen hört sie Stimmen und Gelächter. "Willst du sie kennenlernen oder lieber deine Ruhe?", fragt Leon hinter ihr. "Ich wär lieber allein", antwortet sie leise. "Okay, komm". Leon nimmt wieder ihre Hand und geht mit ihr nach oben, den Gang entlang und öffnet eine Türe weit hinten. "Deine Gemächer für die nächste Nacht und solange du willst. Die Tür dort drüben geht ins Bad. Mein Zimmer ist direkt gegenüber, wenn was ist, komm zu mir, ja? Ich bring dir noch schnell was anderes zum Anziehen". Liv nickt und versucht, diesen Traum zu verstehen. Sie steht in einem Schlafzimmer, dass so groß ist wie Wohn- und Schlafzimmer ihrer Wohnung zusammen. Ein riesiges Bett steht rechts und die Wand gegenüber besteht fast nur aus Schrank. Neben dem Bett ist ein riesiges Panoramafenster, das den Blick zum Park freigibt. Links in der Wand, neben dem Schrank, ist die Tür zum Bad. Langsam geht sie zu der Tür und macht sie auf. Sie lehnt sich an den Türrahmen und sieht sich um - sogar eine Badewanne steht hier drin. Liv spürt, dass Leon hinter ihr steht, bevor er etwas sagt und wundert sich wieder über diese Verbundenheit, die sie sich nicht erklären kann.

Leon mustert sie und merkt, wie sehr in diese Frau nur durch ihre Anwesenheit beruhigt. "Hier, ein paar Sachen zum Wechseln, Handtücher sind im Regal und ich hab dir etwas zum Essen hochgebracht. Kann ich dir sonst noch etwas Gutes tun?". Liv hat sich zu ihm umgedreht und lächelt ihn an "Danke. Nein, ich denke, ich bin grade mehr als wunschlos glücklich" - "Ich bin drüben, wenn was ist, einfach Bescheid geben, okay?" - "Ja, mach ich. Danke für alles, Leon" - "Gern, Olivia. Gute Nacht!" - "Gute Nacht, Leon". Er schliesst die Tür hinter sich. "Schlaf gut,  meine Königin", flüstert er noch, bevor er in seinem eigenen Zimmer verschwindet.

Leon & Liv   -   Eine WerwolfgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt