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Schweigend sitzen die Freunde in Livs Wohnzimmer, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. „Und was willst du jetzt tun, Leon?", fragt Marvin und bricht damit das Schweigen. Dieser schaut auf und hat wieder seinen alten, kalten Blick. „Was soll ich schon tun? Sie hat mich gebeten, nichts zu tun. Wenn sie mich nicht will, dann kann ich nichts dagegen machen" – „Leon!" – „Nein! Lasst mich jetzt allein!" – „Du machst jetzt genau das, was sie nicht wollte. Du vergräbst dich wieder in deinem Kummer, suhlst sich in Selbstmitleid und stößt dein Rudel von dir" – „Verdammt nochmal, jetzt geht endlich!" Linus macht den Anfang und steht auf, gefolgt von den anderen. Der letzte ist Konstantin, der sich neben Leon stellt und ihm seine Hand auf die Schulter legt. „Leon, lass ihr Zeit. Das ist nicht endgültig. Sie ist als Mensch aufgewachsen und so erzogen worden, nicht mit der Verantwortung für ein ganzes Rudel. Mit ihren Zeilen hat sie gezeigt, wie sehr sie schon Luna ist. Sie hätte auch einfach verschwinden können, ohne Brief oder nur mit einer kurzen Notiz. Wir sind für dich da!" Leon nickt und auch Tino verlässt die Wohnung. Jetzt kann Leon seine Mauern fallen lassen und er beginnt zu weinen. Nach einer Weile geht er durch die Wohnung und beschliesst hier einzuziehen, um seiner Mate irgendwie näher zu sein. Und er wird sie suchen, egal was sie schrieb, doch er wird es alleine tun, denn je mehr davon wissen, desto eher kann das zu ihr durchdringen.

Liv ist schon seit Wochen in Italien unterwegs. Erst in Bozen, dann in Venedig und Mailand, jetzt steht sie in Florenz auf dem Piazzale Michelangelo und lässt den Anblick auf sich wirken. Sie liebt die Toskana, und jetzt im Oktober, wenn die Scharen an Touristen weniger sind, kann man das Flair erst so richtig geniessen. Sie schlendert weiter und wird plötzlich von einen jungen Mann fast über den Haufen gerannt. "Scusi, Signora", ruft er und läuft weiter. Sie bückt sich, um ihre Handtasche aufzuheben, doch ein Mann in ihrem Alter kommt ihr zuvor und gibt sie ihr. "Stai bene?" - "Si, grazie". Er mustert sie neugierig, sein Blick bleibt kurz an ihrem Hals hängen, bevor er ihr wieder in die Augen sieht. "Sie sind keine Italienerin?", stellt er dann fest. "Ist das so eindeutig? Nein, ich bin Deutsche", lacht Liv und will weitergehen. "Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?" - "Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist" - "Ich weiß, dass Sie vergeben sind. Ich käme nie auf die Idee, jemandem seine Mate streitig zu machen". Verdutzt schaut Liv ihn an. "Was machen Sie allein in Firenze?", will er wissen. "Urlaub" - "Allein?" Skeptisch sieht er sie an. "Ja, bei emanzipierten Frauen soll das durchaus möglich sein", antwortet sie schnippisch und er beginnt laut zu lachen. "1:0 für Sie. Trotzdem ist es eher unüblich in unseren Kreisen, wenn man seinen Gefährten gefunden hat". Liv seufzt und geht weiter, er bleibt neben ihr. "Okay, dann anders. Hier in Florenz gibt es zwei Wolfsrudel, die nebeneinander leben. Mein Rudel ist in den Innenbezirken, das andere in den äußeren Lagen und der Umgebung der Stadt. Dort kann es gefährlich sein für fremde Wölfe, besonders für Frauen, die allein unterwegs sind. Dieses Rudel ist ... nicht gerade zimperlich mit Eindringlingen. Noch dazu, wenn es die Gefährtin eines Betas oder Alphas ist" - "Woher willst du das wissen?" - "Man riecht ihn sehr stark an dir, also muss es ein mächtiger Wolf sein. Aber du - ich darf doch du sagen?" Liv nickt. "Du selber wirkst nicht wie ein Wolf" - "Liegt wohl daran, dass ich keiner bin ... also irgendwie schon, aber ..." - "Wollen wir nicht doch einen Kaffee trinken? Du hast mich neugierig gemacht". Liv zögert noch kurz, dann stimmt sie zu. Nach ein paar Schritten öffnet er eine Tür und führt sie in ein kleines Cafe in einer Seitenstraße. Nachdem er seinen Espresso und sie ihren Cappuccino vor sich stehen haben, beginnt er zu reden. "Ich bin Maurizio". Er reicht ihr die Hand, die Liv ohne zu zögern annimmt. "Olivia, aber nenn mich bitte Liv". Ein erstaunter Ausdruck huscht über sein Gesicht, kaum wahrnehmbar, bevor er ihr galant einen Handkuss gibt. "Nun, Liv, dann erzähl mal" - "Naja, ich bin unter Menschen aufgewachsen, seit Generationen gab es keinen Werwolf mehr in meiner Familie, also, zumindest hat sich keiner mehr verwandelt. Als mich mein Soulmate gefunden und markiert hatte, passierte viel nicht so Schönes", kurz übermannt sie die Erinnerung und sie blinzelt ein paar Tränen weg. "Naja, Ende vom Lied, ich kann mich mittlerweile auch verwandeln und kenne meine Geschichte und meine Bestimmung, bin aber noch nicht so weit, dass ich das machen kann" - "Deine Bestimmung?" - "Ja" - "Willst du drüber reden?" - "Nein. Das ist jetzt nicht böse gemeint, aber ich kenne dich ja gar nicht, Maurizio" - "Alles gut, Liv. Dann bist du vermutlich so jung, wie du wirkst?" - "Ja, für euch bin ich ein Welpe, wahrscheinlich fühle ich mich deswegen noch nicht reif genug für meine Aufgabe" - "Du bist die Luna", sagt er ihr auf den Kopf zu. "Nein, ich soll sie sein". Grübelnd schaut er sie an. "Mein Alpha gibt morgen einen Ball, Liv. Bisher habe ich keine Begleitung - willst du mich begleiten?" - "Ich?" - "Ja. Du bist ... hmmm ... meine Kusine, die mich besucht. Dann kannst du dir mal ansehen, was eine Luna so tut. Und die nächsten Tage begleitest du mich auch" - "Das geht doch nicht. Was sagt deine Mate dazu?" - "Ich habe sie noch nicht gefunden, deshalb geht das schon in Ordnung. Was wir allerdings mit deinem Alpha machen, wenn er das rausbekommt, weiß ich nicht". Er fährt sich kurz durch die Haare. "Den lass mal meine Sorge sein" - "Also kommst du mit?". Strahlend sieht er sie an. "Ja. Welche Aufgabe hast du im Rudel?" - "Ich bin der Rudelarzt". Jetzt schmunzelt Liv. "Okay, ich habs anscheinend mit Ärzten" - "Dein Mate ist Arzt?" - "Nein, mein bester Freund im Rudel" - "Hast du ein Abendkleid dabei?" - "Nein" - "Na dann, bella donna, lass uns shoppen gehen".

Nachdem er bezahlt hat, zieht er Liv in eine Boutique. Da Livs Sprachkenntnisse nicht so gut sind, überlässt sie Maurizio das Reden. Die Verkäuferin mustert sie kurz, dann verschwindet sie und kommt wenig später mit drei traumhaften Kleidern wieder. "Na hopp, wir haben nicht ewig Zeit". Maurizio schiebt sie in eine Umkleide. Als erstes probiert Liv ein schwarzes langes Kleid mit engem Rock, hochgeschlossen ohne Ärmel, mit einem tiefen Rückenausschnitt. Sie tritt vor ihn hin. "Nein", ist sein einziger Kommentar, der auch Livs Meinung widerspiegelt. Das zweite ist dunkelrot, knöchellang in A-Linie, das Oberteil mit Spitze besetzt und mit kurzen Ärmeln. "Das ist gut für morgen", meint Maurizio, "und jetzt noch das letzte". Liz ist gleich verliebt, als sie sich darin sieht. Es ist dunkelgrün, bodenlang mit einem weit schwingenden Rock. Das Oberteil ist in viele kleine Falten gelegt, über dem Dekollete und am oberen Rücken mit Spitze, die als angeschnittene Ärmel endet. "Sembri un angelo, bella donna", murmelt Maurizio. "Und welches soll ich jetzt nehmen?", fragt Liv. "Beide! Das rote und das grüne" - "Das ist mir zu teuer" - "Wer sagt denn, dass du bezahlst? Es ist mir eine Ehre, dass du mich begleitest, und deshalb zahle ich" - "Ab..." - "Keine Widerrede. Basta!" Er nickt der Verkäuferin zu, die dem vermeintlichem Pärchen lächelnd zugehört hat und gibt ihr seine Kreditkarte. "Maurizio, das kann ich nicht annehmen", sagt sie leise, als die das Geschäft verlassen. "Doch. Jetzt brauchst du noch Schuhe". Er zieht sie zum nächsten kleinen Laden, in dem es Pumps, Highheels, Stilettos und alle möglichen Schuhe gibt. Livs Wahl fällt auf ein Paar Pumps in Nude mit mittlerer Absatzhöhe. "Und für das zweite Kleid?", fragt er neugierig. "Die passen zu beiden" - "Dein Mate ist zu beneiden" - "Warum?" - "Sparsame Frauen gibts nicht so oft bei uns. Allerdings zeichnet das ja doch auch eine Luna aus", zwinkert er ihr zu. Er bezahlt auch die Schuhe, obwohl Liv das nicht möchte und nimmt die Tasche. "Wo wohnst du? Die Kleider werden zu mir geliefert. Ich würde vorschlagen, wir holen deine Sachen und du ziehst bei mir ein. Erleichtert einiges, wenn ich dich nicht erst immer abholen muss". Verdattert schaut Liv Maurizio an. "Na komm, gib dir einen Ruck. Ich tu dir nichts". Nach kurzem Überlegen stimmt sie zu, aber sie gibt Marie Bescheid, mit der sie immer in Kontakt ist.

Leon & Liv   -   Eine WerwolfgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt