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"Ich bin noch nicht lange Luna, Olivia, erst seit etwas mehr als 50 Jahren. Ich wurde  während des zweiten Weltkrieges auf Sizilien geboren, als drittes Kind armer Leute. Wir hatten kaum zu essen, lebten mehr schlecht als recht im Dreck, als Alerio auf mich aufmerksam wurde. Ich war damals gerade mal 14 Jahre alt, ein Mensch und eins von insgesamt zehn Kindern. Er war auf der Durchreise und wusste sofort, als er mich sah, dass ich seine Seelenverwandte bin, die er schon jahrhundertelang gesucht hatte. Er ist ein alter Werwolf - lass ihn das bloß nicht hören", kichert Aurora, "und auch dementsprechend mächtig. Er gab meinem Vater Geld - viel Geld - damit er mich mitnehmen konnte. Ich wehrte mich zwar, aber mein Vater prügelte mich aus dem Haus. Ich wundere mich noch heute, dass Alerio damals nicht ausgerastet ist, aber er fing mich auf anstatt auf meinen Vater loszugehen. Er war von Anfang an unglaublich sanft zu mir, führte mich langsam ein in seine Welt, die Welt der Werwölfe und der Reichen. Das war für mich damals ja ein Wurf ins andere Extrem. An meinem 18. Geburtstag machte er mir einen Heiratsantrag, den ich aus Dankbarkeit annahm. Erst danach klärte er mich auf - ich wusste zwar, dass er der Alpha ist, doch was es heißt eine Luna zu sein erfuhr ich erst da. Ich hatte Angst vor dieser Aufgabe, Angst davor unsterblich zu sein und Angst zu versagen. Doch mit ihm an meiner Seite stellte ich mich meinen Ängsten und ich denke, ich bin eine gute Luna geworden. Ich möchte dich an die Hand nehmen und dich ein wenig in die Welt der Luna führen, wenn du einverstanden bist. Die erste Aufgabe hast du schon hinter dir - Kinder lieben dich, auch wenn ihr euch nicht verständigen konntet, haben sie dich gleich akzeptiert. Kinder sind unsere Zukunft, Olivia, hast du sie auf deiner Seite, ist ein Viertel schon geschafft. Die anderen drei sind das Rudel, der oder die Betas und natürlich der Alpha. Ich weiß ja nicht, was du dir unter den Aufgaben vorstellst, aber so schlimm wie früher, als die verschiedenen Rudel sich bekämpft haben und wir quasi als Ärztinnen und Krankenschwestern fungierten, ist es nicht mehr. Was geblieben ist - wir sind Beraterinnen, Psychologinnen, Kummerkasten, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und manchmal auch Pflegerinnen. Vor allem aber sind wir die Person, die immer versucht ein offenes Ohr zu haben, Ratschläge zu geben, falls erwünscht, aber auch zu schweigen, wenn nötig. Und das ist eigentlich nichts anderes wie auch in der menschlichen Familie, nur das ein Rudel größer ist. Wie groß ist dein Rudel, Olivia?" - "Es sind 87, ein paar Frauen sind schwanger und es kommen bestimmt noch mehr dazu" - "Siehst du, du weißt Bescheid, ohne groß nachzudenken. Du bist mehr Luna, als du denkst".

Die beiden Frauen sitzen lange schweigend nebeneinander, als Liv plötzlich ein Schmerz durchfährt. Sie krümmt sich zusammen. „Olivia? Was ist los?", fragt Aurora besorgt. „Er tut es schon wieder" – „Was?" – „Immer wieder hat er Sex mit Frauen. Aurora, ich kann nicht mehr", flüstert Liv. „Was heißt immer wieder?" – „Fast jeden Abend, tagsüber ist neu". In diesem Augenblick kracht die Türe auf und Alerio stürzt herein. Er hat den Schmerz seiner Mate gespürt, den diese empfunden hat, als Liv zusammenbrach. Aurora hat Tränen in den Augen und er schließt sie sofort in seine Arme. „Was ist los, cara mia?" – „Der Mate von Olivia ist los. Maledetto stronzo! Accidenti a lui". Entsetzt sieht er sie an. „Was macht er denn, dass du so ausrastest? So kenne ich dich gar nicht!" – „Er betrügt sie, dauernd, gerade wieder". Jetzt richtet er seinen Blick auf Olivia, die immer noch weinend auf dem Sofa kauert. „Leon?", fragt er Aurora in Gedanken und diese nickt. Er geht vor Olivia in die Hocke, zieht ihre Hände vom Gesicht und hält sie fest. „Olivia". Alerio wartet, bis sie ihn ansieht. „Er ist keine einzige Träne wert. Ein Mann sollte seine Frau schätzen und sie nicht betrügen, nur weil sie nicht bei ihm ist oder sie vielleicht grade eine schwierige Zeit haben. Komm mal mit". Er steht auf und wartet, bis Olivia neben ihm steht, dann geht er in die Bibliothek. Er überlegt kurz, dann holt er ein Buch aus einem der oberen Regale und legt es auf einen Tisch. „Hier, lies, lass dir Zeit. Wenn du Fragen hast, kannst du mich jederzeit fragen. Ich bin sicher, du findest Antworten auf deine Fragen und vielleicht sogar Tipps – obwohl ich eigentlich gar nicht will, dass du die annimmst, weil das die allerletzte Lösung sein sollte. Morgen Abend feierst du mit uns, Maurizio wird sich wie bisher um dich kümmern und du wirst den Abend genießen – das ist ein Befehl!" Schüchtern nickt Olivia und setzt sich mit dem Buch in einen Sessel. Sie streicht sanft über den Buchdeckel und liest den Titel. „Werwölfe – Bindungen, die zum Scheitern verurteilt sind". Sie stockt kurz, dann schlägt sie die erste Seite auf und vertieft sich in den Text. Olivia vergisst total die Zeit und fährt hoch, als Maurizio plötzlich neben ihr steht. "Du solltest etwas essen, Liv, es ist bereits Abend".  Sie nickt, nimmt das Buch und bringt es in ihr Zimmer, dann begleitet sie Maurizio in die Küche, um sich eine Kleinigkeit zu suchen.

Am nächsten Spätnachmittag sieht sich Olivia lange im Spiegel an, dann strafft sie ihre Schultern und beginnt, ihre Haare hochzustecken und sich zu schminken. Sie legt nur wenig MakeUp auf, betont ihre Augen kaum, das Highlight ist der farblich passende Lippenstift. Als sie fertig ist, schlüpft sie in das dunkelrote Kleid und die Pumps. Sie betrachtet sich im Spiegel und ist zufrieden. Sie lächelt sich zu und öffnet kurz ihren Mindlink für Leon, um ihm ihr Spiegelbild zu schicken. „Ich denke, du solltest wissen, was dir so entgeht, Leon. Aber vergnüg dich weiterhin mit anderen Frauen, ich werde heute zur Abwechslung auch mal Spaß haben". Sie spürt, dass Leon am Ausflippen ist und verschließt sich sofort wieder. Dann linkt sie Marie an. „Wow, du siehst super aus. Dagegen bin ich momentan ein Walroß", kommt von ihr zurück und Liv lacht. „Du bist kein Walroß, Marie, du trägst ein Kind in dir und bist wunderschön!" – „Naja ... Hast du was angestellt? Linus kommt grade heim und ist echt sauer!" – „Ja, kann sein, dass ich Leon genau das gleiche Bild geschickt habe wie dir" – „Du hast WAS?". Marie beginnt zu lachen. „Recht hast du" – „Marie, ich muss morgen mal länger mit dir reden. Alerio hat mir ein Buch gegeben und ich weiß jetzt, dass ich die Verbindung zu Leon lösen kann und werde. Aber jetzt genieße ich den Abend! Sag Linus einen schönen Gruß von mir" – „Aber dann weiß er, dass wir Kontakt haben" – „Das ist schon in Ordnung. Ciao, Marie".

Marie lässt sich das Gespräch nochmal kurz durch den Kopf gehen, dann fällt ihr auf, was Livy gesagt hat. Entsetzt sieht sie Linus an, der immer noch grimmig dreinschaut. "Was ist?", grummelt er. "Sie will die Bindung lösen" - "Wer will welche Bindung lösen?" -  "Livy" - "Du hast Kontakt zu ihr und sagst mir nichts?", fährt er sie an. "Ja, hab ich, von Anfang an. Und es war gut so, das seh ich an deiner Reaktion". Verletzt steht sie auf und will den Raum verlassen, aber Linus hält sie auf. "Entschuldige bitte, aber Leon treibt uns alle in den Wahnsinn" - "Das ist kein Grund, deine Laune an mir auszulassen" - "Ja, du hast recht". Er gibt ihr einen langen Kuss auf die Stirn. "Wie geht es ihr?", will er wissen. "Schlecht. So schlecht, wie es einer Frau halt geht, wenn der Mann sie fast jeden Tag betrügt", sagt Marie leise. "ER MACHT WAS? Geht das jetzt schon wieder los? Ich versteh das nicht, das muss ihm doch selber genauso wehtun, er muss doch ihren Schmerz fühlen" - "Nein. Er ist wieder genauso verbohrt wie nach der Entführung und er blendet den Schmerz aus. Er wird wieder genauso kalt wie früher. Linus, wenn das so weitergeht, werde ich das Rudel verlassen und wieder in mein Heimatrudel gehen. Ob du mitkommst oder nicht, bleibt dir überlassen. Aber ich werde mein Kind nicht unter einem kalten, unbeherrschten Alpha aufwachsen lassen". Mit diesen Worten lässt sie einen fassungslosen Linus zurück.

Leon & Liv   -   Eine WerwolfgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt