Umzug

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Am nächsten Morgen stand ich schon um kurz vor sieben Uhr vor der Tür des Arztes. Ich war bereits die Zweite die wartete. Da man hier der Reihe nach dran genommen wird, in der man erscheint, wollte ich nicht zu spät sein. Ich wollte so kurz wie möglich warten. Als ich hier so in der kalten Luft stand bemerkte ich, wie aufgeregt ich eigentlich war. Mein Herz klopfte und mein Magen fühlte sich komisch an. Ich wusste gar nicht genau wie ich das Gespräch gleich anfangen sollte. Ich meine, wie erklärte man Beschwerden, wenn man noch nicht einmal selbst wusste, woher sie kamen und man sich selbst kaum verstand? Wie sollte man sich ausdrücken. Es kam blöd rüber, wenn man sagte, man sei krank, weil man komische Gedanken hatte und einfach nicht mehr weiter wusste.

Der Winter war zum Glück beinahe vorbei, denn es war echt die Hölle eine Stunde hier zu stehen. Der Arzt ließ erst um acht Uhr die Türen öffnen. Man stand blöd rum und konnte nichts machen. Ätzend. Nach und nach kamen weitere Patienten und irgendwann öffnete sich dann endlich die Tür. Wie sich rausstellte war die Patientin vor mir nur zum Blut abnehmen da. Also konnte ich gleich weiter zur Anmeldung. Ich musste noch im Wartezimmer Platz nehmen. Dort überlegte ich dann wie ich das Gespräch gleich anfangen wollte. Wie ich beschreiben sollte, wie ich mich fühlte. Ob ich die Sache mit dem Spiegel erwähnen sollte und dass ich mich selbst verletzt hatte. War das relevant? Natürlich war es das. Deshalb war ich ja unter Anderem hier! Ich seufzte und kurz hatte ich ein paar Blicke auf mir. Im Wartezimmer saßen mittlerweile ziemlich viele Menschen und doch war der Raum mucksmäußchenstill.

,,Wessel-Masannek bitte", kam eine Helferin rein und ich stand auf. Sie führte mich zu dem Behandlungszimmer. Mein Herz klopfte immer mehr. Ich wusste, dass ich hier jetzt auch noch ein paar Minuten warten musste. Ich wäre am liebsten wieder gegangen. Ich hätte am liebsten weiter geschwiegen. Ich sah nochmal auf mein Handy. Raban hatte mir geschrieben.

,,Hey. Du weißt, ich bin körperlich nicht da, aber mental denke ich die ganze Zeit an dich. Kuss." Ich schluckte. Das wurde auch nochmal eine harte Sache ihm zu sagen, dass ich das mit uns zurzeit nicht wollte. Obwohl, ich hatte niemals einer Beziehung zugestimmt. Geschweige denn erwähnt, dass wir nun ein Paar waren. Aber ich war mit ihm im Bett. Und er wusste genau, dass ich kein Typ für One-Night-Stands war. Ich schrieb erstmal zu Leon. ,,Hey Brüderchen. Könnten wir uns heute vielleicht treffen? Es ist wichtig."

Hinter mir öffnete sich die Tür und ich steckte mein Handy in die Hosentasche. Ich stand auf und gab dem Arzt die Hand. ,,Also Miss Wessel-Masannek. Was führt sie zu mir?" Der dunkelhäutige Mann lächelte mich freundlich an. Er wirkte so nett. Ich hatte Angst, dass er mich gleich aufgrund meiner Aussage für verrückt erklären würde. Ich konnte eine Weile nicht anfangen zu sprechen. Ich hatte mir noch immer keinen Anfang suchen können. ,,Also...Ich bin hier weil...ein Freund wollte, dass ich mich Ihnen anvertraue...", stammelte ich los. Doch der Arzt war ruhig und geduldig und das gab mir etwas Mut. ,,Ich weiß in letzter Zeit nicht, was mit mir los ist...Ich habe...Ich habe einige Veränderungen an mir selbst festgestellt." Und damit erzählte ich ihm, wie es klein angefangen hatte. Als ich Leon gefragt hatte, wie es wohl wäre, wenn es mich nicht gäbe. Dann wie ich vor dem Spiegel ausgerastet war, weil ich den Anblick von mir selbst nicht mehr ertragen konnte und wie ich mich dann selbst verletzt hatte. Natürlich hinterfragte der Arzt meine Hintergründe. Also erzählte ich ihm fast meine ganze Lebensgeschichte. Vom Waisenhaus bis zum Punkt als ich von Joachim adoptiert wurde. Wie ich meiner Oma über den Weg gelaufen war und dass ich herausgefunden hatte, dass mein Vater am Leben ist. Dass ich zu ihm gezogen war und wir uns nur verkracht hatten. Wie er gestorben war und was in der Schule abging. Dass ich dort rausgeworfen wurde und was mit Jimi war. Ich redete mir alles von der Seele.

Und nun saß ich da. Mit verheulten Augen. ,,Mein Freund, also mein Kumpel bei dem ich erstmal untergekommen bin, wurde dann von meinem Hund geweckt. Ich sagte zu ihm, dass er mich umbringen soll." Mein Gegenüber schrieb sich alles auf. Dann sah er mich an und fragte mich weiter aus. Nach anderen Sachen, die für mich als normal schienen. Wie ich schlief, ob ich oft solche Gedanken hatte, wenn ja wie oft, wie meine Stimmung die letzten Tage war und was ich derzeit fühle. Die letzte Frage war ein harter Brocken für mich, obwohl sie so einfach schien. ,,Wie ich mich fühle?" Noch immer hatte ich nicht aufgehört zu weinen. Unter Tränen gab ich zu: ,,Mir geht es total beschissen. Ich habe einfach nichts mehr und für mich gibt es nichts lebenswertes mehr." Er schrieb zu Ende, dann legte er den Stift weg.

Das neue LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt