Sie nannte ihn Charles. 03

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„Bitte.", wiederholte Alice flehend. Wie sie erst jetzt bemerkte, hatte sie instinktiv seinen Arm gepackt und löste ihren zu festen Griff ohne den Stoff seiner Lederjacke gänzlich loszulassen. „Wie bist Du an meine Adresse gekommen?"

„Als ich 18 Jahre wurde, haben mir die Nonnen den Namen und die bei ihnen hinterlegte Adresse meiner leiblichen Mutter in die Hand gedrückt, ehe sie mich auf die Straße setzten. Ich habe den Namen Alice Cooper, geborene Smith, mit zugehöriger Wohnanschrift gefühlte tausend Mal auf verschiedenste Zettel niedergeschrieben und diese dann anschließende entsorgt. Nur dieser hier, hat es überlebt." Charles streckte Alice den Schnipsel Papier entgegen. Sie nahm ihn auf und fuhr mit den Fingern über die mit feinen Bleistiftlinien geschriebenen Buchstaben ihres Namens.

Charles hatte sich erneut dem Kaminsims genähert. Er berührte das Glas hinter denen Fotos mit Alice, zwei Mädchen und einem Mann steckten. „Sind das ihre Töchter?"

„Ja."

„Wer ist der Mann?"

„Das ist Hal. Wir sind verheiratet. Er ist ..."

„... sicherlich nicht mein leiblicher Vater. Lügen Sie mich nicht an.", platze Charles selbstsicher heraus. Ohne Alice's Reaktion abzuwarten, sprach er weiter:„Ich habe mich immer gefragt, warum es mir nicht vergönnt war als Kind in einer ganz normalen Familie aufzuwachsen."

„ich war nicht bereit, war zu jung. Ich dachte, Dich zur Adoption freizugeben, wäre die beste Möglichkeit, Dir ein gutes und normales Leben zu bieten."

„Hat er Ihnen das vorgekaut? Wissen Sie, ich wurde nicht adoptiert. Ich habe mein ganzes Leben in diesem beschissenen Loch bei den Barmherzigen Schwestern verbringen müssen. Mit 16 Jahren bin ich häufiger abgehauen, doch meine Versuche endeten immer kläglich. Ich habe mich bei den Nonnen nie wohl gefühlt, habe immer gewusst, dass mir Dinge im Leben fehlen, die andere Leute als langweilig und gegeben hinnehmen wie einfach nur Teil einer Familie zu sein. Ich wurde mit Regeln und Bestrafungen erzogen aber nicht mit Liebe."

„Es tut mir unendlich leid."

„Ich weiß. Für Sie hat es sich am Ende doch ausgezahlt oder? Sie führen doch ein perfektes Familienleben."

„Lass mich Dir helfen."

„Bei was? Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich bin erwachsen. Ich bin nicht hier, weil ich Hilfe benötige oder Geld brauche, falls sie das denken."

„Nein, nein, ich weiß, Charles." Sie hatte furchtbare Angst, ihn gleich wieder gehen lassen zu müssen.

„Ich habe meine damalige Entscheidung bereut. Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht daran gedacht habe, was für einen riesigen Fehler ich begangen habe. Du hast jedes Recht der Welt mir nicht zu glauben. Ich verstehe das." Sie sah wie sein Gesicht abrupt bleich anlief und seine Finger unkontrolliert zu zittern begannen. „Geht es Dir gut?"

Er antwortete nicht.

Es machte sie nervös und stärkte ihr tiefsitzendes Schuldgefühl. Es war offensichtlich, dass es in ihm arbeitete. Fast schien es ihr, als ob er sie aufgesucht hatte, um einen Rat einzuholen, so als ob er an einem Scheideweg oder gar Tiefpunkt in seinem Leben angelangt war. Aus einem Reflex heraus umfasste sie seine Hände mit ihren. Die Wärme, die sie dabei ausstrahlte versetzte Charles einerseits einen Stich ins Herz, berührte ihn andererseits überraschend unerwartet.

„Alice? Ich bin zu Hause.", rief eine gestresste Männerstimme aus Richtung der Eingangstür ins Haus und unterbrach damit jäh den annähernden Moment zwischen Mutter und Sohn.

„Hal!", fuhr Alice erschrocken auf.

„Mein Termin mit Tom im Register wurde gestrichen. Wer sind Sie?", fragte er irritiert, als er zu Charles und Alice stieß.

„Charles."

„Wer?"

„Ich sollte gehen.", befand der junge Mann, der den unfreundlichen Unterton in Hal Coopers Stimme vernahm.

„Nein Charles, warte bitte.", rief Alice ihrem Sohn hinterher, als dieser den Ausgang der Haustür ansteuerte.

„Wer ist das Alice?", unterbrach Hal sie nun sichtlich bedient.

„Das ist ...", sie ringte unsicher nach den passenden Worten. Einen Moment zu lang nach Charles Geschmack. Mit verletztem Gesichtsausdruck flüchtete er endgültig aus dem Haus.

Jetzt dämmerte es auch Hal Cooper, als er sie, noch immer auf eine Erklärung wartend, daran hinderte, dem jungen Mann hinterher zu laufen.

„Er ist der Junge, den ich vor 21 Jahren abgegeben habe ...", flüsterte sie lautlos.

„Lass ihn gehen." Hals Rat klang eher nach einem Befehl.

„Weshalb?"

„Er gehört nicht zu unserer Familie."

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