Luna Hardwell, wie sich die Dame vorgestellt hatte, führte Ryan einige Meter landeinwärts.
,,Wie weit ist es noch?", drängte er und schaute ungeduldig in alle Richtungen. Luna hob die Hand und zeigte auf eine kleine Gestalt in der Ferne. Es war zu dunkel um sie erkennen zu können. Ohne ein weiteres Wort rannte er los. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und ließ ihn kaum Atmen. Bitte! Bitte lass es Alice sein! Voller Hoffnung griff er die Schultern der kleinen Gestalt und drehte sie um. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten, fiel auf die Knie und nahm das kleine Gesicht in seine Hände. Die vertrauten, vom Weinen aufgequollenen blauen Augen seiner Schwester trafen auf seine. Sie füllten sich mit Tränen. Alice umklammerte mit ihren kleinen dünnen Armen seine Brust. Ihr kindliches Schluchzen erfüllte die Nacht und ließ Ryan nichts anderes mehr wahrnehmen.
,,Wie hast du es an Land geschafft?", fragte er unsicher, ließ sie aber nicht los.
,,Diese Frau..", sie legte den Kopf schief und schaute sich um. ,,Da!", er folgte ihrem Finger und sah einen brünetten Haarschopf erschöpft im Sand liegen. Es war Frau, welcher er im Flugzeug versucht hatte zu helfen. Er hob Alice hoch. Er wagte es nicht mehr sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Sie klammerte sich an ihm fest als er sich mit vorsichtigen Schritten der Frau näherte. Langsam kniete er sich neben sie und berührte ihren Arm.
,,Danke!", murmelte er und ihr Kopf schnellte zu hoch.
,,Ach, du!", bemerkte sie trübe. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen als sie Alice in seinem Arm bemerkte. Ihr Blick blieb an seinem anderen Arm hängen.
,,Du hast also auch ganz schön was abbekommen.", verwirrt folgte er ihrem Blick und bemerkte erst jetzt die klaffende Wunde die sich von seinem Oberarm bis knapp über die Schulter abzeichnet. Wie konnte er eine Wunde in diesem Ausmaß nicht bemerken? Jedoch musste er zugeben, dass er seit dem Absturz nur Alice im Kopf hatte.
,,Das ist jetzt nicht so wichtig. Wie geht es ihnen?", sein Blick fiel auf ihr Bein. Anscheinend hatte die Wunde aufgehört zu Bluten. Trotzdem sah es sehr schmerzhaft aus.
,,Monica. Ich heiße Monica.", sie hielt sich den Kopf und versuchte aufzustehen.
,,Ich komme durch, denke ich. Dank dir!", ein dankbarer Ausdruck spiegelte sich in ihren dunklen Augen wider. Sie rappelte sich auf, aber als er ihr seinen Arm reichen wollte schüttelte sie den Kopf.
,,Ich muss sowieso früher oder später wieder laufen.", mit diesen Worten drehte sie sich um und lief in Richtung des brennenden Flugzeugwracks. Nach ein paar Sekunden wendete er den Blick von ihr ab und konzentrierte sich auf seine Schwester.
,,Komm wir schauen mal wie wir uns nützlich machen können.", er ließ sie herunter, nahm ihre kleine Hand in seine und ging den selben Weg wie Monica.
Ryan erkannte ihren blonden Schopf sofort. Es war Carmen. Die süße blonde Stewardess die ihm ihre Nummer gegeben hatte. Er konnte es kaum glauben und schnappte japsend nach Luft als er sie sah. Sie lag auf dem Rücken. Es sah aus als.. als würde sie schweben. Ihr Gesicht war vollkommen entstellt von Blut und Angst. Ihre Lippen zitterten leicht. Er bat Luna einen Moment auf Alice aufzupassen, was sie nur mit einem mütterlichem Nicken quittierte. Mit dem Versuch sich zusammen zu reißen ging Ryan auf sie zu. Bei näherem betrachten sah er das Ausmaß ihrer Verletzungen. Er musste den Blick abwenden um sich nicht sofort zu übergeben. Eins der Flugzeugteile hatte sich durch ihren kompletten Oberkörper gebohrt. Sie musste beim Absturz darauf gefallen sein. Er atmete tief durch und wendete sich ihr wieder zu. Sie schwebte wirklich. Ihre Arme, Beine und sogar ihr Kopf hingen schlaff nach unten. Aber sie lebte. Er konnte sich ihre Schmerzen nicht einmal im Traum ausmalen. Ihr entfuhr ein leises Wimmern als sie ihn bemerkte. Er wusste nicht was er machen sollte. Sie von der Spitze heben? Nein. Dann würde das riesige klaffende Loch in ihrem Bauch sie sofort umbringen. Aber sie würde sterben. Oder? Konnte er etwas tun? Sie schien schon längst verloren. Doch das leise Keuchen zeigte, dass noch Leben in ihr steckte.
,,Bitte..", wisperte sie trübe. Ryan wischte seine schweißnassen Hände an seiner Hose ab und schaute sie an.
,,Ich hole Hilfe.", flüsterte er ihr zu worauf sie erleichtert schluckte. Unbeholfen schaute er sich um. Einige der Passagiere liefen aufgebracht hin und her. Andere sprinteten von einem Ort zum anderen um so behilflich wie möglich zu sein. Und manche saßen einfach so da. Starrten in die Ferne. Beteten. Weinten.
,,Können sie mir bitte kurz helfen?", Ryan griff einen der Helfer am Arm. Er sah kräftig aus. Er strich sich kurz über seine Glatze und kratzte sich dann am Hinterkopf.
,,Natürlich. Was gibts?"
,,Dort hinten", er wies mit dem Zeigefinger Richtung Carmen.,,Ein Mädchen. Sie ist schwer verletzt.", drängele er. Der Mann nickte und Ryan führte ihn zu ihr. Er keuchte als er sie über dem Sand schweben sah. Sein missmutiger Blick fiel auf Ryan und er schüttelte den Kopf. Er drehte sich zu ihm und schob ihn einige Meter von Carmen weg, sodass sie die folgenden Worte nicht hören konnte.
,,Es ist zu spät, Junge. Wenn wir sie von dem Ding heben würden stirbt sie. Wenn wir sie drauf lassen stirbt sie ebenfalls.", sein Kopfschütteln verdeutlichte den Ernst und die Hoffnungslosigkeit der Lage.
,,Die Spitze stoppt ihre Blutungen. Wenn wir es schaffen würden wären ihre Wunden offen gelegt und sie wird verbluten. Mal abgesehen davon, dass ihre Wirbelsäule.. Naja.. durchtrennt sein muss und sie keinen Schritt mehr machen könnte.", sein mitleidiger Blick fiel auf das Mädchen. Ihre Brust hob und senkte sich ganz langsam und in ungesunden Abständen.
,,Was machen wir mit ihr?", fragte Ryan den Mann, wendete den Blick aber nicht von ihr ab. Er rieb sich die Stirn, ging ein paar Schritte auf sie zu und kniete neben ihr nieder.
,,Na, Kleines?", seine Stimme wurde sanft und er lächelte sie an.
,,Ich werde sterben.", wimmerte Carmen leise. Es war Frage und Aussage zugleich. Eine Träne suchte sich ihre Bahn über ihre Augenbrauen an ihren Schläfen entlang bis in ihren von Blut verschmierten Haaransatz.
,,Ja.", entgegnete der Mann mit fester aber zugleich beruhigender Stimme.
Carmens Blick fiel auf Ryan. Dann lächelte sie.
,,Ich hätte mich über einen Anruf gefreut."
Ihr wanderte Blick wieder zu dem Mann mit Glatze.
,,Wie ist ihr Name?", murmelte sie.
,,Emil."
,,Emil. Können sie das beenden? Es tut so weh.", ihre Stimme war nur noch ein leises keuchen. Die mit dicken Tränen gefüllten Augen schnellten ungehalten zwischen Ryan und Emil hin und her. Emil warf Ryan einen fragenden Blick zu. Er atmete tief durch.
,,Bitte.", flüsterte sie und schloss die Augen während weitere Tränen sich Wege über ihre blutüberströmte Haut bahnten.
,,Bei drei?", Emil zog fragend die Augenbrauen hoch.
,,Bei drei.", antwortete Ryan mit fester Stimme.
Emil deutete ihm den unteren Teil ihres Körpers zu nehmen während er den oberen übernahm. So behutsam wie möglich versuchten sie das Mädchen von der Spitze zu heben. Ein lauter qualvoller Schrei drang durch ihre Kehle und wirkte betäubend. Unsicher schnellte Ryans Blick zu Emil, aber er deutete ihm mit einem Nicken weiterzumachen. Ihre Schreie waren kaum zu ertragen. Es kam ihm endlos lang vor bis sie Carmen endlich sanft in den Sand legen konnten. Das große Loch klaffte direkt in der Mitte ihres Bauchs. Wenn man genau hinsah erkannte man den Sand unter ihr. Nach und nach färbte sich der helle, beinahe weiße Sand um sie herum Rot. Sie begann Blut zu husten. Wie gerne er ihr helfen würde. Sie retten! Aber das war unmöglich. Emil wendete den Blick ab und Ryan fing ihn ein.
,,Danke.", sagte er mit brechender Stimme. Emil nickte bloß. Dann Stille. Kein Husten. Kein Schreien. Kein Keuchen. Ihr Augen waren weit geöffnet und es sah aus als würde sie nur daliegen und die Sterne betrachten. Ryan fiel neben ihr auf die Knie und schloss ihre Augen. Sie war Tod.
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Long way home
Teen Fiction,,Ihr kommt hier her, fällt unsere Bäume, fischt unsere Fische und jagt unser Fleisch. Ihr denkt alles gehört euch, aber so läuft das nicht!", ihr fester Blick fixierte seinen. ,,Denkst du ich will hier sein? Ich würde auch lieber Zuhause sein als m...