Kapitel 10

3 0 0
                                    

Es war leicht gewesen sich wegzuschleichen. Kurz bevor die Sonne aufging schliefen alle seelenruhig. Sie würden bestimmt böse auf sie sein, aber das war es ihr eindeutig wert. Sie war klug genug gewesen, sich eine Flasche Wasser aufzufüllen und etwas von dem getrocknetem Fleisch, was sie so gern mochte, einzupacken. Die letzten Tage hatte sie kaum geschlafen. Die Sorge um ihren Bruder setzte ihr zu. Emil und die anderen versprachen ihr, dass alles gut werden würde, dass Ryan jeden Moment wieder da sein müsse und sie jeden Tag nach ihm suchen würden. Sie vermisste auch Ana. Und Lester. Aber Ryan war ihr der Liebste. Und alles was sie noch hatte. Als sie heute Nacht wieder wach gelegen hatte wurde ihr klar, dass Ryan niemals tatenlos rumliegen würde wenn sie verschwunden wäre. Sie war klein aber nicht dumm. Entschlossen stapfte sie durch den noch nebligen Wald. Ihre Füße waren nass von dem Tau, der in der Morgensonne glitzerte. Auch wenn sie keine Spuren lesen konnte hielt sie immer wieder Ausschau nach abgeknickten Ästen oder Fußspuren auf dem erdigen Waldboden. Sie hatte das damals im Fernsehen gesehen. Wie sie dort allein und selbstständig durch den Wald ging, fühlte sie sich gar nicht so klein wie sie steht's alle behandelten. Sie fühlte sich erwachsen und war stolz auf sich die Initiative ergriffen zu haben um ihren Bruder zu finden. Sie war lange unterwegs gewesen. Hatte keine Pause eingelegt. Aber Sonne brannte so heiß, dass sie sich schließlich doch im Schatten eines großen Baumes niederlassen musste. Sie war erschöpft. Die Müdigkeit überrannte sie und ihre kleinen Augen fielen zu.

Nach ein Weile öffnete sie die Augen, konnte aber nichts sehen. Sie tastete ihre Umgebung ab und fühlte die Rinde des Baumes unter dem sie eingeschlafen war. Als ihre Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, schlich sich ein ungutes Gefühl in ihren Bauch. Erschrocken drehte sie den Kopf als sie das gurren einer Eule hörte. Es war unheimlich. Die Bäume um sie herum ähnelten Monstern die nach ihr zu greifen schienen. Alice verfluchte sich selbst dafür, sich nachts oft heimlich in Ryans Zimmer geschlichen zu haben wenn der Fernseher noch lief. Vor ihren Freunden war es cool gewesen, mit den Filmen anzugeben die ihnen verboten wurden. Aber nun ergriff sie schreckliche Angst. Sie riss die Augen auf, als ein knacken hinter ihr ertönte. Langsam drehte sie sich um und sah eine Gestalt in der Ferne.

,,Das ist nur ein Baum. Das ist nur ein Baum. Das ist nur ein Baum", redete sie sich gut zu. Plötzlich bewegte sich die Gestalt. Und nein, es war eindeutig kein Baum. Sie schrie laut auf und begann hektisch zu rennen. Sie ruderte wild mit Armen und Beinen und achtete kaum auf ihre Umgebung. Sie rannte und rannte. Schrie und schrie. Dann knallte sie gegen etwas hartes. Verdutzt blickte sie hoch, direkt in die Augen eines großen Mannes mit einer Fackel in der Hand. Der Mann war bunt bemalt und hatte einen langen Zopf. Seine Haare waren viel länger als ihre, was sie ein bisschen traurig machte. Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Er erwiderte ihren Blick und musterte sie verwundert.

,,Bist du ein Geist?", fragte sie vorsichtig. Er schüttelte den Kopf. Sie überlegte kurz.

,,Ein Indianer?", er entgegnete ihr mit einem verwirrten Blick.

,,Ein was?", sie begann ihm zu erklären was Indianer waren. Erkenntnis machte sich in seinem Gesicht bemerkbar. Er musste ein Indianer sein, zumindest sah er so aus.

,,Wie heißt du?", fragte Alice höflich.

,,Zato.", antwortete er zögernd.

,,Hast du dich hier verlaufen? Wo kommst du her?", sie wollte so gerne antworten aber sie war so müde.

,,Ich..", sie gähnte laut und ihre Augen wurden schwer. Sie schaffte es nicht zu antworten. Sie schlief beinahe im stehen ein.

,,Avon. Nimm das Mädchen und trag sie zum Dorf.", war das letzte was sie von der gebieterischen Stimme wahrnahm, ehe sie in einen tiefen Schlaf fiel.

Long way homeWhere stories live. Discover now