10. Fragen und Geheimnisse

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In Gedanken versunken betrachtete ich den Man vor mir, der mitten in meinem Wohnzimmer stand und sich umsah. Er überblickte die Unordnung und das Chaos, das darin herrschte, ignorierte die Papieransammlung und die unzähligen Zeitungen, die ich nicht einmal weggeräumt hatte, und konzentrierte sich nur auf die Inneneinrichtung, die ich besaß.

Ich hingegen konzentrierte mich nur auf das Gefühl, welches in mir aufstieg, je weiter ich ihn ansah. Als hätte ich ein langverscholledes Familienmitglied wiedergefunden. Und in irgendeiner Art war es dem auch so. Schon damals wurde Lucas irgendwie zu meiner Familie. Und er hatte damals eine ungeheure Lücke in meinem Leben hinterlassen, nachdem er gegangen war.

Doch jetzt schien er diese mit jeder weiteren Minute wieder zu füllen, die er bei mir war. Obwohl er in dem Moment eigentlich wie ein Fremder für mich sein sollte, war er es dann doch nicht wirklich.

Ein Teil von mir wollte mich davon überzeugen ihn zu hassen oder wenigstens noch immer wütend auf ihn zu sein. Dafür, was er mir angetan hatte. Doch der andere Teil - der überwiegende Teil, zeigte dennoch Verständnis und war glücklich darüber, dass er nun hier war.

Das Glück in dem Moment überwog den Schmerz von damals. Etwas, was ich mir nicht hätte vorstellen können.

>>Schön hast du es hier<<, sagte er nebenbei und wandte sich wieder zu mir. Ich hingegen starrte ihn einfach nur an, unfähig etwas vernünftiges zu erwidern. Mochte es an meiner Erschöpfung liegen oder aber auch an der Überwältigung, die über mich gekommen war.

>>Cristina? Alles in Ordnung? Soll ich lieber wieder gehen?<<

Bei der letzten Frage kam ich schlagartig wieder zu mir und schüttelte den Kopf. >>Nein. Es ist alles gut. Komm. Da drüben ist die Küche.<< Ich zeigte mit dem Finger Richtung Durchgang und dirigierte ihn dahin.

Luke setzte sich an den Tisch, während ich zum Kühlschrank ging und diesen öffnete. >>Worauf hast du Lust?<<

>>Überrasch' mich<<, zuckte er mit den Schultern.

>>Okay. Dann mache ich dir meine Spezialität. Pfannkuchen a la Cristina, mit einem verbessertem Rezept.<<

Ich holte bereits die Zutaten heraus, stockte jedoch, als ich seine Stimme hörte. >>Hoffentlich sind sie besser als deine früheren Schlammkuchen.<<

Sofort fuhr ich, mit einem warnenden Blick herum und richtete den Finger auf ihn. >>Hey, du hast sie damals geliebt, gib's zu.<< Natürlich hatte er sie damals nie gegessen. Wir waren Kinder und spielten oft mit Matsch. Aber schon damals hatte ich so getan als würde ich für ihn kochen oder backen. Und er spielte jedes mal mit und lobte meine eingebildeten und nicht-vorhandenen Kochkünste, nur um mich dadurch zum lächeln zu bringen.

Lachend hob er schützend die Hände nach oben. >>Verzeihung, ich wollte dich nicht verärgern, Chefkoch.<<

Mit einem leichten Triumph machte ich mich ans Werk. Es war schon seltsam. Als ich vorgeschlagen hatte ihn mit zu mir zu nehmen, hätte ich nicht gedacht, dass die Stimmung zwischen uns gleich auf Anhieb so locker sein würde. Eher hatte ich Anspannung und eine bedrückende Atmosphäre erwartet, doch das schien Meilen entfernt zu sein.

Auch wenn wir jahrelang von einander getrennt waren, schien die Verbindung, die wir damals als Kinder hatten, noch immer da zu sein.

>>Wie lange lebst du schon hier?<<, fragte ich nach einer weile, während ich das Essen zubereitete. Diese Frage quälte mich bereits seit seinem Geständnis.

Es dauerte etwas, als ich ihn plötzlich neben mir bemerkte, wie er sich an die Küchenzeile lehnte und mich bei dem beobachtete, was ich tat. >>Ein paar Jahre. So genau weiß ich es nicht mehr.<< Und dennoch hatte er sich nie bei mir blicken lassen. Vielleicht waren wir uns so oft über den Weg gelaufen, ohne dass ich es überhaupt bemerkt hatte. Diese Tatsache tat wirklich weh, doch ich ließ mir nichts anmerken.

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