Kapitel 3

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"Schieß los.", fordere ich ihn auf.

"Womit?"

"Was dich so zum Heulen gebracht hat. Bevor du es verneinst, es ist manchmal besser mit einer fremden Person darüber zu sprechen, also?", schildere ich dem Fremden neben mir.

"Es ist nichts." Verächtlich entwischt mir ein Lachen.

"Wenn es nichts gewesen wäre, dann hättest du nicht so krass geheult. Sogar mich hat es nicht stillstehen lassen."

Anstatt wie jeder andere Mann seinen Stolz aufrechtzuerhalten, legt er seinen Stolz beiseite und erzählt nach einem tiefen Atemzug was genau ihn kürzlich zum Weinen brachte.

"Es hat was mit meinem Bruder zu tun. Er hat mein ganzes Leben ruiniert."

"Wie?"

"Mein Bruder und ich sind Zwillinge, zweieiige. Unser Aussehen unterscheidet sich stark, denn wir sehen aus, wie zwei verschiedene Personen, genauso wie sich unsere Charaktere voneinander unterscheiden. Er war immer der bessere scheinheilige Zwilling, der goldbraune Haare und tolle blaue Augen hat, was man wie du sehen kannst, von mir nicht behaupten kann.

Ich wurde von ihm nicht als Bruder angesehen, egal was ich tat und das war schon mein ganzes Leben so. Er sah mich immer als Feind an. Er schob mir jeglichen Mist in die Schuhe, den er begann, sodass er wie das harmlose und brave Traumkind wirkte und ich war zweifellos sein Sündenbock.

Du denkst dir wahrscheinlich gerade, dass das normal ist, doch ist es normal, wenn dein Bruder eine Schule anzündet und es dir in die Schuhe schiebt? Ist es normal, dass du dann von der Schule fliegst, Stress mit den Bullen hast und deine Zukunft versaut ist?", verlangt er eine Antwort in einem verletzten Ton, der mir das Herz raubt.

"Ich mag verrückt sein, weil ich einen Fremden umarme und mit ihm irgendwo im nirgendwo laufe, aber so verrückt, dass ich denke, dass das normal ist, bin ich auch nicht.", versuche ich die Stimmung etwas aufzulockern, was problemlos funktioniert, da er kurz schmunzelt.

"Ich dachte immer es liegt daran, dass wir jung waren, jung und dumm, wie man immer sagt. Es war aber nicht so, weil er schlimmer wurde."

"Es geht noch schlimmer? Er ist zwar dein Bruder, aber trotzdem will ich dem nicht begegnen. Wer kann so schlimm sein? Was ist mit deinen Eltern?"

Dieses Mal schnaubt mein Nebenmann verächtlich auf.

"Eltern? Meine Eltern haben mir nie geglaubt, ich erwähnte doch, dass ich das Sündenbock war. Sie hatten nur Augen für ihren Goldjungen."

"Krass.", staune ich erschrocken. "Erzähl weiter."

"Ich stand, wie eine Enttäuschung für meine Familie da, weil ich angeblich so viel Mist angestellt hatte. Ich wurde ins Ausland, genauer gesagt nach Deutschland auf ein Internat geschickt. Es hat sich niemand für mich interessiert. Keiner rief mich auch nur einmal an und fragte, wie es mir ging, nicht einmal meine Eltern. Das Einzige was sie taten, war mir Geld zuzuschicken, als würde es mir etwas nützen.

Ich verbrachte insgesamt sieben Jahre dort und bin gestern mit meinen Freunden nach Istanbul zurückgekehrt. Vorhin habe ich dann erfahren, dass er einfach unser Familienunternehmen übernommen hat, ohne mir Bescheid zu geben.

Die Hälfte der Firma steht mir rechtlich zu, also werde ich mein Recht auch ausnutzen und ihm zeigen wer ich bin. Koste was es wolle. Vor allem nicht, nachdem er mir die Chance auf ein Medizinstudium genommen hat. Mein Bruder hat mir alles genommen. Meine Vergangenheit und meine Zukunft."

Während er erzählt, steigert er sich wieder in das Geschehene rein, weshalb er seine Hand unbewusst zu seiner Faust ballt. Als ich das bemerke, greife ich danach und löse seine Faust.

Er sollte sich deswegen nicht selbst weh tun.

Unter meiner Berührung richten seine braunen Augen sich direkt hoch in meine. Diese Verletzlichkeit, die ich in seinen Augen ablesen kann, ist unfassbar stark, dennoch lächelt er mich warm an.

"Wenn ich das ganze richtig verstehe, ist dein Zwilling der Schein eines Prachtjungen, der dein ganzes Leben lang dich wie einen Feind gehasst hat. Er tat alles was in seiner Kraft stand, um dir dein Leben zu vermiesen und nimmt dir jetzt auch noch dein Recht auf euer Familienunternehmen? Und weil deine ganze aufgestaute Wut eben aufgekommen ist, hast du so krass geheult?", fasse ich in logischer Reihenfolge zusammen, was er mit einem Nicken bestätigt.

"Herzlichen Glückwunsch! Du hast meinen Respekt. Außerdem, auch wenn ich dich nicht richtig kenne, aber jetzt irgendwie auch schon, stehe ich zu dir. Weißt du was? Es wird bestimmt der Tag kommen, an dem Karma ihn schlägt." Ich hoffe Serkan auch.

"Du glaubst wirklich an so einen Unsinn?", erstaunt er.

"Unsinn? Das ist Realität. Du kriegst was du gibst, auch wenn das mal spät werden kann.", klopfe ich ihm brüderlich auf die Schulter. "Lehn dich zurück und bleib ein guter Mensch. Alles wird von selbst geschehen."

"Wie kannst du dir da sicher sein?", stellt er meine Aussage skeptisch in Frage.

"Bin ich mir nicht aber, alles hat immer irgendwie einen Grund, denn Gott weiß was er tut. Außerdem ist da immer ein Licht am Ende der dunklen Gasse."

Mit zusammengezogenen Augenbrauen beäugt er mich kritisch.

"Du glaubst mir nicht?"

Der junge Mann schüttelt stur seinen Kopf.

"Dann guck mal gerade aus. Sogar diese komische, gruselige, dunkle Gasse hat ein helles Ende.", deute ich geradeaus, wo das leuchtende Ende der stockdunklen Gasse zu sehen ist.

Der Schwarzkopf bleibt entgeistert stehen und schaut mich undefinierbar an. "Ach komm schon, du wusstest, dass da Licht ist, oder?"

Ich schnalze verneinend mit der Zunge und grinse heimlich.

"Nein, siehst du? So etwas nennt man Schicksal. Das ist ein Zeichen dafür, dass es in der Dunkelheit immer ein Licht gibt.", schmunzele ich rechthaberisch, werde aber von meinem eigenen Magenknurren unterbrochen.

"Und das ist jetzt also das Zeichen dafür, dass wir aufhören sollten darüber zu diskutieren, weil du recht hast?", macht er sich lustig.

"Schön, dass du es eingesehen hast und jetzt lauf schneller, Heulsuse. Ich habe Hunger."

"Sevgidolu kıza bak.", schnalzt er beeindruckt, was mich zum Lächeln bringt. [Schau dir das Mädchen voller Liebe an.]

Fortsetzung folgt...

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