(8) - Ernste Wendung

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Mein klingelndes Handy riss mich urplötzlich aus dem Schlaf. Komplett verpennt tastete ich danach und entzifferte mit zusammengekniffenen Augen, dass David mich gerade anrief. Um 05:05 Uhr. Was zur Hölle?
Ich nahm ab.
"Ja, Hallo?", begann ich das Gespräch und setzte mich schlaftrunken auf.
"Hallo Tessa", begrüßte mich David fröhlich. Wo nahm er bloß um die Uhrzeit diesen Enthusiasmus her? Ich wollte gerade fragen, warum in aller Welt er so früh anrief, als er mir schon zuvorkam.
"Tut mir leid, falls ich dich aus einem schönen Traum gerissen haben sollte", entschuldigte er sich direkt, aber ich winkte gedanklich ab. "Ich möchte so gerne mit dir den Sonnenaufgang anschauen. Jetzt. Heute. Dann picknicken wir zusammen am Rheinufer. So wie früher", schlug er begeistert vor.

Trotz der frühen Morgenstunden musste ich grinsen. Das war aber auch zu süß.
"Du kommst aber auch immer auf Ideen", grinste ich und stand währenddessen schon auf, um mir spontan Kleidung rauszusuchen.
"Also? Hast du Lust? Kann ich dich abholen kommen?" Er klang fast schon aufgeregt.
"Ja, natürlich!", sagte ich sofort. "Ich muss mich nur noch schnell umziehen."
"Okay. Super. Sehr schön. Dann bis gleich." Er legte auf.
Kopfschüttelnd legte ich mein Handy beiseite. Aber in mir bahnte sich große Vorfreude an. Wie lange hatten wir sowas bitte nicht mehr gemacht?
Ich band mir meine Haare kurz zu einem Zopf zusammen und schnappte mir dann meine Tasche.

Wenige Momente später klingelte es auch schon an der Tür. Mit vor Freude pochendem Herzen lief ich so schnell und gleichzeitig auch so leise wie möglich die Treppe hinunter und trat hinaus an die angenehm kühle Nachtluft.
David zog mich sofort in eine stürmische Umarmung.
"Danke, dass du solche verrückten Ideen immer wieder mitmachst." Ich konnte sein Grinsen im schwindenen Licht der Sterne erkennen. Und erwiderte es.
"Natürlich", entgegnete ich lachend.
"Los, komm", meinte er dann begeistert und zog mich zu seinem Auto. Die kurze Fahrt mit den vorbeirauschenden Laternen und dem am Horizont heller werdenden Himmel ließ mich jegliche Müdigkeit vergessen. Ich freute mich gerade so unnormal, wieder einen solchen Ausflug zu machen.
"Wollen wir hierhin?", fragte er dann und deutete aus dem Fenster. Ich folgte seinem Blick und konnte eine große Grünfläche direkt am Ufer ziemlich abgeschnitten von den umliegenden Straßen erkennen.
"Perfekt", sagte ich begeistert.
Wenige Minuten später saßen wir nebeneinander auf Davids Picknickdecke, lauschten den zwitschernden Vögeln, den zirpenden Grillen und dem unweiten Quaken der Frösche. Selbst die ab und an in der Ferne vorbeifahrenden Autos störten die Idylle nicht wirklich.

Als die ersten, fast schon rosa wirkenden Strahlen der aufgehenden Sonne die klare Nacht vertrieben, sah ich grinsend zu David und zog mir meine Jacke noch etwas fester um.
"Danke", sagte ich ehrlich.
"Fürs fünf Uhr wecken? Gerne."
"Du weißt doch, was ich meine."
Er lachte auf.
"Na klar." Er zog mich zu sich.
So saßen wir noch einige Minuten, bis plötzlich mein Handy klingelte. Seufzend löste ich mich von David und zog es aus meiner Tasche. Mailin rief an. Um halb Acht morgens.
Mich beschlich ein ungutes Gefühl.
"Tessa?", fragte sie direkt, als ich annahm. Sie klang ziemlich aufgewühlt.
"Ja, May? Was ist?" Ich setzte mich sofort aufrechter hin, hatte schon eine Vorahnung, was jetzt kommen würde.
"Mama... Sie ist wieder... Ich habe gerade fast schon Angst vor ihr", sagte meine kleine Schwester mit ungewöhnlich hoher Stimme.
"Ich komme vorbei. Ganz ruhig, May", versuchte ich meine kleine Schwester zu beruhigen, während ich aufstand.
David schien meinen Blick gedeutet zu haben, denn er begann sofort, unsere Sachen zusammenzupacken.

Der ganze Tag war komplett gekippt.
Plötzlich empfand ich die vorbeifahrenden Autos als stressend und selbst das eigentlich beruhigende Plätschern des Wassers alles andere als beruhigend.
"Ich bin gleich da, okay?", versicherte ich meiner Schwester nochmal, bevor ich auflegte.
"Es tut mir so leid", sagte ich an David gewandt.
"Mir tut es leid", entgegnete er sofort, "Mir tut es leid, dass du so eine Situation hast." Aber weiter darauf einzugehen, schien er auch nicht zu wollen.

Er bremste sein Auto scharf vor dem Mehrfamilienhaus meiner Mutter.
"Und du schaffst das wirklich allein?", versicherte David sich zum zehnten Mal.
Ich nickte schnell und löste den Gurt. Meine Mutter braucht jetzt mich, sie kann keine anderen Personen ertragen.
"Trotzdem danke", sagte ich knapp - auch zum zehnten Mal.
Ich könnte seine Unterstützung jetzt gebrauchen, doch um mich geht es nun an letzter Stelle. Ganz vorn war es Mailin, die aus dieser Situation gezogen werden musste.
Ich knallte die Beifahrertür gerade zu, als mir dieser Gedanke kam. Bevor David überhaupt losfahren konnte, riss ich die Tür wieder auf. "Kann ich dir Mailin nach unten schicken?"
Ohne groß zu überlegen nickte er. "Ich kann mit ihr frühstücken gehen und sie auf andere Gedanken bringen."
Mir fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn dieser nur einen Bruchteil des ganzen Felsens ausmachte.

Ich klingelte erst gar nicht, sondern kramte schon auf dem Weg zur Haustür die Schlüssel raus. Meine Hand zitterte, sodass ich ein paar Anläufe brauchte, das Schloss zu treffen.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte ich in den vierten Stock. Kaum steckte der Schlüssel, wurde die Tür geöffnet. Mailin starrte mich aus aufgerissenen Augen an und öffnete ihren Mund. "Mama ist wieder total verstört", wisperte sie mit zittriger Stimme. Sonst war es still in der Wohnung. Nur das leise Wimmern war durch die geschlossene Wohnzimmertür zu hören.
"Hör zu", begann ich und musste mich bemühen, vor Mailin ruhiger zu sein. "David wartet vor der Tür in seinem Auto. Er geht mit dir frühstücken, okay?"
Sie nickte unsicher und zog sich schnell ihre Schuhe an. Ich war froh, dass Mailin das verstand und ohne Nachfragen einfach darauf hörte. Sie wusste, was nun die besten Wege waren, diese Situation unter Kontrolle zu bekommen.
Auch wenn es so wirkte, als wolle ich Mailin vor unserer Mutter beschützen - ich wusste, dass ich keine Angst haben musste, dass sie ihr gegenüber handgreiflich wird. Auch in ihren schlimmsten emotionalen Ausbrüchen war ihr das nicht zuzutrauen. Und ich wusste auch, dass Mailin mir so was sagen würde.

Nachdem die Tür zwischen Mailin und mir ins Schloss fiel, schloss ich kurz meine Augen und atmete tief durch. Hauptsache ruhig. Mit Ruhe kam ich bei meiner Mutter nun am weitesten.
Vorsichtig öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer.
Das Bild, welches sich mir bot, war kein unbekanntes. Völlig aufgelöst saß meine Mutter auf der Couch. Ihr Gesicht war von Tränen benetzt, ihr ganzer Körper bebte. Wenige Schritte neben ihr lag ein zerbrochener Bilderrahmen.
"Hey Mama, was ist los?", fragte ich mit sanfter Stimme und setzte mich neben sie. Auch wenn ich mir die Frage allein beantworten konnte, wollte ich es auch von ihr hören.
"Warum?", wimmerte sie leise. "Warum? Kannst du mir das sagen? Warum?"
Immer wieder wiederholte sie die Frage, auf die wir alle eine Antwort wollten. Doch wir hatten sie nicht. Und ich bezweifelte, dass wir diese jemals bekommen werden.
"Das wissen wir nicht", sagte ich ehrlich. Meine Stimme war leise, denn sonst hätte ich nicht versprechen können, dass sie fest klingt. "Aber es wird nicht an dir liegen." Ein Satz, den ich schon etliche Male gesagt hatte. Der so leer klang, so schwach. Doch er zeigte schon oft Wirkung, wenn ich ihn nur überzeugend genug sagte, was in diesen Momenten bei meiner Mutter leichter sein konnte.
"Aber warum?", wiederholte sie bebend. "Was habe ich falsch gemacht?"
Innerlich seufzte ich und zapfte meine letzte Reserve an. Ich war auf diesen Fall nicht vorbereitet. Das war ich fast nie, doch gerade heute war ich gar nicht in Alarmbereitschaft.
"Du hast nichts falsch gemacht. Du hast alles richtig gemacht."
Meine Mutter sah mir ins Gesicht und ich erkannte den Schmerz, den ihre Augen ausdrückten. Die Tränen, die ihr nach wie vor über die Wangen rannen, ließen sich mein Herz zusammenziehen. Es tat auf eine ganz eigene Art unglaublich weh.
"Und warum ist es dann so geworden, wie es ist?" Ihre Stimme war fast nur noch ein Hauch.
Ich nahm meine Mutter in den Arm.
"Das wissen wir nicht." Meine Worte wiederholten sich. "Aber es liegt nicht an dir." Schweigen breitete sich aus.

Doch die Ruhe hielt nicht lang. Ein unangenehmer Geruch zog zu uns. Es roch ziemlich... verbrannt?
Und da hörte ich Mama tatsächlich leise auflachen. Auch wenn es beinahe jämmerlich klang; sie lachte. "Ich hab das Rührei vergessen."
"Ich kümmere mich schon", sagte ich mit heiterer Stimme und stand schnell auf. Die Küche war schon mit einem leichten Nebel durchzogen und der Übeltäter auf dem Herd ist schon beinahe in Asche gefallen.
"Eigentlich sollte das Frühstück für Mailin werden. Aber dann..." Meine Mutter holte Luft und ich hörte, dass es für sie pure Anstrengung war, ihre Emotionen in Schach zu halten.
"Schon gut", unterbrach ich sie schnell. Ich wollte das nicht nochmal aufwühlen. "May ist mit David frühstücken. Mach dir keine Gedanken."
"Du kannst dich mit deinem Freund wirklich glücklich schätzen", stellte sie fest. Und diesmal war es ein ehrliches Lächeln, welches die Tränen fehl am Platz wirken ließ.
Ich nickte. Ja, das konnte ich wirklich.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt