Wir setzten uns auf eine Bank.
"Weißt du, Talessa", sagte meine Mutter mit einem unbestimmten Blick in die Ferne. Ich sah zu ihr. Ehrlich daran interessiert, was sie sagen würde. Manchmal sprach sie an solchen Tagen nicht ein Wort.
"Weißt du, ich wäre mit deinem Vater auch gerne alt geworden."
Diesen Satz hatte ich vermutet. War aber darüber, dass sie ihn aussprach, verwundert.
Sie sprach sehr selten über meinen Vater. Und erst recht nicht am Jahrestag seiner letzten Nachricht. Heute war es genau elf Jahre her. Ich war einen Moment perplex, wusste gar nicht, was ich erwidern sollte.
"Ich weiß", sagte ich dann murmelnd."Nein, weißt du nicht."
Mein Blick schnellte zu ihr. Verwirrt sah ich sie an. Meine Mutter blickte starr auf einen Punkt auf dem Boden vor der Bank.
Mit diesen Worten hatte ich nicht gerechnet. Normalerweise ließ sie mich einfach ihr zureden. Die für mich leeren Floskeln sagen. Mehr nicht. Ich spürte, wie sich mein Herz beschleunigte. Es war, als würde sich eine kleine Katastrophe anbahnen, die dennoch von großer Bedeutung war."Du weißt es nicht", wiederholte sie. "Du kannst es nicht wissen. Du kannst es nicht empfinden. Du verstehst mich nicht recht. Keiner tut das. Und das kann ich auch nicht verlangen. Aber du weißt es nicht."
Ihre Worte trafen mich auf eine sehr schmerzhafte Art mitten ins Herz. Ließen meine Mühe so sinnlos wirken. Gegen meinen Willen spürte ich ein kribbelndes Gefühl meinen Hals hochkriechen und bemerkte, dass meine Augen feucht wurden. Es war, als hätte mich meine Mutter gemaßregelt, als wäre ich ein Kind, welches Unfug gemacht hatte. Obwohl es ein ganz anderer Schmerz war.
Eine merkliche Kühle schien nun von meiner Mutter auszugehen."Aber dann sag sowas nicht", sagte sie weiter, den Blick noch immer starr nach vorn gerichtet. "Du hast keine Ahnung, was es heißt, sitzen gelassen zu werden. Von jemandem, den du liebst. Von dem du dachtest, dass er dich lieben würde. Dem du jahrelang aus tiefster Seele alles anvertraut hast, was dir auf dem Herzen lag. Du weißt nicht, was es heißt, wenn jemand dann einfach mit deinen Geheimnissen weggeht. Mit deinem Leben."
Ich schwieg. War wie versiegelt, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, zu reden. Sie hatte recht. Ich verstand sie nicht. Und das einzusehen tat verdammt weh. Die kleine Katastrophe war bedeutungsvoll eingetroffen. Direkt in meiner Seele. Es war, als hätte sich mein Magen umgedreht und würde von einer kalten, eisernen Faust festgehalten werden.Meine Mutter holte tief Luft und begann dann zu erzählen. Sie sprach selten darüber. Und obwohl ich alles schon wusste, hörte ich genau zu, um die bereits verblassenden Erinnerungen letzter Erzählungen zu festigen.
"Wir haben uns vor sechsundzwanzig Jahren kennengelernt. In einem wunderschönen Park. Es war wie in einem Film. Die Jahre zogen dahin. Deine Geburt war so ein glücklicher Moment für uns. Und ich dachte, das Glück würde für immer bleiben."
Ihre Stimme zitterte und der helle Schein, der kurz in ihren Augen aufleuchtete, erlosch wieder. Mit keiner Mühe dieser Welt hätte ich ihn festhalten können.
"Wir lebten viele Jahre in dem Haus, was Emilio geerbt hatte. Ich verbinde mit diesem Haus so viel Gutes, weißt du?"
Ein schwacher Versuch eines Lachens entwich ihr.
Ich zog jedes einzelne Wort auf, als könnte dies alles rückgängig machen.
"Dann kam der Wendepunkt. Mit Mailins Geburt wurde das Geld immer knapper, wir waren sehr weit abgesunken. Meine Familie war nie besonders reich, weißt du? Und wir konnten das Haus nicht mehr länger finanzieren."Meine Mutter atmete tief ein und aus.
"Wir zogen in die Wohnung um, lebten nur noch vom nötigsten. Und wir brauchten Geld, das war uns klar. Wir wollten auch Mailin eine schöne Kindheit schenken, in der sie nicht auf jeden Cent achten musste."
Sie hielt kurz inne. Ich erinnerte mich vage. Ich war noch jung, hatte meine Eltern oft reden gehört, aber nie den Ernst der Lage begreifen können. Und eine Welt war für mich zusammengebrochen, als wir umzogen. Weg von dem schönen Haus. Weg von diesem weiten, belebten Garten, der im Nachhinein ein kleines Paradies für mich dargestellt hatte.
Damals hatte ich es nicht verstanden und wünschte mir auch jetzt manchmal noch diese Ahnungslosigkeit zurück, in der die Farben des Lebens leuchteten, statt von einem ständigen grauen Umhang ermattet zu werden.Meine Mutter klammerte sich an ihrer Tasche fest, bevor sie weitersprach. Das dunkle Haar, welches ihr Gesicht umrahmte, ließ sie noch blasser wirken. Ihre Stimme war das Gegenteil von fest.
"Emilio und ich entschieden uns dafür, dass er wegzieht. Sich einen guten Job in Österreich sucht, mit dem er genug Geld verdienen kann. Er schrieb jeden Tag. Aber heute vor elf Jahren das letzte Mal."Aufgelöst wischte sie sich eine Träne weg.
"Verstehst du? Ich war blind. Ich hätte es all die Zeit sehen müssen. Emilio wollte sich nicht länger um eine Familie kümmern, die gerade noch genug hatte, um zu leben. Er wollte nicht länger mit einer Frau zusammen sein, die aus so einer armen Gegend kommt."
Es war der Schmerz, der aus meiner Mutter sprach. Der tief in ihr saß und nie ein Ventil hatte, um zu entfliehen. Ihre Stimme wurde lauter, obgleich sie genauso instabil blieb.
"Er muss es schon länger geplant haben. Und das war dann seine Chance, in ein neues Leben zu fliehen. Es war so einfach für ihn. Er schrieb nicht mehr zurück. Löschte wahrscheinlich die Nummer und begann sein Glück mit einer Neuen."Meine Mutter brach nun endgültig in Tränen aus. Ich wusste mir nicht anders zu helfen und umarmte sie. Obwohl sie mich mit ihren Worten vorhin auf eine andere Art verletzt hatte. Als wären meine Bemühungen schon immer halbherzig gewesen.
Ich konnte ihren Schmerz nicht genug nachvollziehen, um ihr eine perfekte Stütze zu sein. Aber ich hatte immer versucht, ihr zu helfen. Und sie ließ meine Versuche so nutzlos wirken.
Doch mir wurde wieder klar, dass meine Mutter kein Alltagsproblem von mir war. Sondern dass sie ein Mensch war. Ein Mensch voller Schmerzen und ich der einzige Weg der Linderung.
Ich fühlte mich, als wäre ich mir dieser Verantwortung nie wirklich bewusst gewesen.Ich war komplett überfordert. Mit so einer Wendung des Tages hätte ich niemals gerechnet. Ich fühlte mich so hilflos, so allein.
Meine Mutter hob ihren Kopf und sah mich aus verweinten Augen an.
"Es hat gut getan, das alles zu sagen. Danke, dass du für mich da bist. Ich sage dir das viel zu selten."
Dann rannen mir ebenfalls Tränen über meine Wangen.-----------
Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)
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Scars || ASDS
FanfictionFür ihre Schwester da sein, wenn die Mutter nicht kann, und sich auch um diese kümmern, wenn sie es selbst nicht schafft, ist für die 24-jährige Talessa Alltag. Wie wichtig ein bester Freund in diesem Leben sein kann, weiß sie. Sie weiß auch, wie wi...